Ägypten Alle Prozesse, die wir beobachtet haben, waren unfair

Tagesanzeiger.ch/Newsnet, 24.3.2014
In einem Verfahren, das offenbar rechtsstaatlichen Prinzipien spottet, wurden in Ägypten mehr als 500 Muslimbrüder zum Tod verurteilt. Amnesty International spricht gegenüber Tagesanzeiger.ch/Newsnet ...

In einem Verfahren, das offenbar rechtsstaatlichen Prinzipien spottet, wurden in Ägypten mehr als 500 Muslimbrüder zum Tod verurteilt. Amnesty International spricht gegenüber Tagesanzeiger.ch/Newsnet von Schauprozessen.

Die ägyptische Justiz setzt zum Todesstoss gegen die verbotene und als terroristisch eingestufte Vereinigung der Muslimbrüder an: 529 von 545 Anhängern des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi, die sich vor den Richtern verantworten mussten, wurden zum Tode verurteilt. Sie sind Teil einer grösseren Gruppe von mehr als 1200 Angeklagten. Schon morgen steht in Minja im Süden des Landes ein neuer Massenprozess gegen 683 Mursi-Anhänger wegen ähnlicher Vorwürfe an. Das berichtet die regierungsnahe Zeitung «al-Ahram». Eine offizielle Bestätigung liegt noch nicht vor.

Vertreter von Amnesty International sind wie zahlreiche weitere Beobachter und Journalisten dabei, die Angaben zu verifizieren. Schon jetzt lässt sich jedoch sagen, dass das Verfahren unter rechtsstaatlich höchst fragwürdigen Umständen durchgeführt wurde. Die Todesurteile wurden nach einem nur zweitägigen Prozess verhängt. «Die Argumente der Verteidigung wurden anscheinend überhaupt nicht angehört», sagt Alexandra Karle, die Sprecherin von Amnesty International Schweiz. 376 Angeklagte wurden in Abwesenheit verurteilt. «Es liegt natürlich die Vermutung nahe, dass es im Lichte internationaler Standards kein faires Gerichtsverfahren war», sagt Karle. Dazu würde eine effektive Verteidigung gehören. Einen Rechtsbeistand gab es offenbar. Er wurde aber gemäss vorliegenden Informationen nicht angehört, erklärt die Amnesty-Sprecherin.

Eine «beispiellose Kampagne»

Karle gibt jedoch zu bedenken, dass die Urteile nicht rechtskräftig sind. Die Verfahren gegen die in absentia Verurteilten müssen nach deren allfälligen Verhaftung neu verhandelt werden. Das verlangt das ägyptische Gesetz. Kapitalverbrechen – den Angeklagten wird Mord am stellvertretenden Kommandanten der Polizeistation in Minja zur Last gelegt – müssen demnach ohnehin von der nächsthöheren Instanz noch einmal begutachtet werden. Es kann Monate oder Jahre dauern, bis die Urteile bestätigt oder abgeändert werden.

Die Strafen für Muslimbrüder sind in Ägypten in vergleichbaren Fällen generell höher als die Strafen für Nicht-Muslimbrüder. Die Verfahren finden auch häufig vor Militärgerichten statt und ohne Verteidigung. Amnesty International dokumentiert in seinem jüngsten Bericht, dass seit Anfang Juli 2013 unter der Übergangsregierung in einer «beispiellosen Kampagne» tatsächliche und mutmassliche Unterstützer der Muslimbruderschaft zu Tausenden festgenommen werden. Die Regierung lässt Proteste gewaltsam auflösen und die Führung der Muslimbruderschaft vor Gericht stellen. Amnesty kommt zum Schluss, dass die Prozesse gegen die Anhänger Mursis häufig politisch motiviert sind. «Die Verfahren gegen Muslimbrüder gelten als Schauprozesse», erklärt Karle.

Zu dieser Einschätzung trägt auch bei, dass in anderen Fällen ganz andere Urteile ergehen. So würden beispielsweise Polizisten, die Demonstranten erschossen oder die exzessive Gewalt angewandt haben – unter der Militärregierung oder noch unter Mubarak – häufig ungestraft davonkommen.

Zivilisten vor Militärgerichten

Das ägyptische Justizsystem ist mit Prozessen gegen Tausende Menschen überflutet, die in den letzten Monaten für verschiedene Vergehen im Zusammenhang mit Antiregierungsprotesten verhaftet worden waren. Faire Prozesse sind nach Einschätzung von Amnesty International so kaum möglich. «Alle Prozesse, die wir beobachtet haben, waren unfair», sagt Karle. Zivilpersonen werden oft vor ein Militärgericht gestellt, was eigentlich nicht zulässig ist. Mutmasslichen Muslimbrüdern passiere das immer wieder. Sie werden dann unter den Antiterrorgesetzen abgeurteilt. «Das ist unrechtmässig und widerspricht internationalem Recht», gibt Karle zu bedenken. Aber auch die Verfahren vor Zivilgerichten sind laut der Amnesty-Vertreterin in der Regel nicht fair.

Die nun Verurteilten können neben dem Revisionsverfahren noch darauf hoffen, dass die tödlichen Verdikte nicht umgesetzt werden. Im letzten Jahr wurden in Ägypten 109 Menschen zum Tod durch den Strang verurteilt. Amnesty International liegen jedoch keine Informationen über vollstreckte Urteile vor.