Das Attentat auf die Karikaturisten von Charlie Hebdo und der Fall des saudischen Bloggers Raif Badawi, der wegen religionskritischer Äusserungen zur öffentlichen Auspeitschung verurteilt wurde, werfen derzeit ein Schlaglicht auf das Recht auf freie Meinungsäusserung. Was umfasst dieses Recht, wo liegen seine Grenzen, und wie ist es heute darum bestellt?
Das Recht, persönliche Überzeugungen, Meinungen und Weltanschauungen frei zum Ausdruck zu bringen und diese auch weiter zu verbreiten, ohne dafür Gefängnis, Folter oder gar den Tod zu riskieren, ist eine der wichtigsten Grundfreiheiten im internationalen Menschenrechtssystem – und eines der am häufigsten verletzten Rechte. Was viele nicht wahrhaben wollen: Auch Meinungen, die von anderen als beleidigend empfunden werden können, fallen unter dieses Recht – einschliesslich der Gotteslästerung.
Das bedeutet nicht, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung absolut wäre: Wie andere Rechte kann es eingeschränkt werden, um Drittpersonen ihrerseits vor Rechtsverletzungen zu schützen. So ist es zum Beispiel völkerrechtskonform, Anti-Rassismus-Gesetze zu erlassen, sexistische Belästigung unter Strafe zu stellen oder Hassreden gegen Minderheiten zu verbieten. Das Völkerrecht stellt an solche Einschränkungen aber sehr hohe Anforderungen: Sie müssen eine gesetzliche Grundlage haben, ein legitimes Ziel verfolgen – etwa den Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Moral oder der Rechte und Freiheiten Dritter -, und sie müssen verhältnismässig sein.
Regierungen aller Weltregionen verletzen heute das Recht auf freie Meinungsäusserung in einer Art und Weise, die mit nichts zu rechtfertigen ist. In Saudi-Aarabien wurde nebst Raif Badawi auch der Menschenrechtsanwalt Walid Abul Khair letzte Woche wegen «Aufstachelung der öffentlichen Meinung» und «Beleidigung der Justiz» zu 15 Jahren Haft verurteilt. In Myanmar stand im vergangenen Jahr der Journalist Zaw Pe vor Gericht, weil er zu Korruption recherchierte. In Thailand verbot die neue Regierung, kaum war sie an der Macht, öffentliche Versammlungen von mehr als fünf Menschen. In Russland nimmt die Repression gegen unabhängige Medien, Journalistinnen und Nichtregierungsorganisationen immer groteskere Formen an. In Tunesien wurde letzte Woche der Blogger Yassine Ayari wegen «Beleidigung der Armee» zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, während in Bahrain Nabil Rajab, Leiter eines Menschenrechtszentrums, aufgrund «verunglimpfender» Twitter-Nachrichten 6 Monate erhielt. Amnesty International setzt sich für die Freilassung solcher Gewissensgefangenen mit weltweiten Aktionen ein.
Doch auch westliche Staaten missachten die Meinungsfreiheit drastisch: Im Namen der «nationalen Sicherheit» und des «Krieges gegen den Terror» werden Grundfreiheiten eingeschränkt, Personen überwacht oder verhaftet, Versammlungen verboten. Frankreich wird seit dem Attentat auf Charlie Hebdo im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus mit einer Verhaftungswelle überzogen. Dresden verhängte wegen der Gefahr eines Anschlags auf den Pegida-Gründer vorübergehend ein Demonstrationsverbot. Ganz Europa diskutiert neue Massnahmen gegen die Terrorgefahr ─ und will dabei auch die arabischen Staaten als Verbündete.
Das Attentat auf Charlie Hebdo wird damit zum Testfall für die ganze Staatengemeinschaft, was die universelle Geltung des Rechts auf freie Meinungsäusserung betrifft: Denn Meinungsäusserungsfreiheit ist nicht realisierbar ohne die Freiheit der Andersdenkenden. Weder in Saudi-Arabien, noch in Frankreich, noch in der Schweiz. Die Verantwortung, sie zu respektieren und uns für sie einzusetzen, tragen wir alle.