Tag 1
Am ersten Tag des Krieges schreibt meine Kollegin Maria Guryeva von Amnesty Ukraine: «In der Nacht des 24. Februars konnte ich nicht schlafen. Unablässig suchte ich auf Twitter nach Anzeichen, dass die lange vorhergesagte russische Invasion nicht passieren würde.» Plötzlich verbreiteten sich die Nachrichten rasend schnell auf Twitter. Es hatte angefangen. «Nur einige Augenblicke später hörte ich eine ohrenbetäubende Explosion. Alle im Haus wachten schockiert und ungläubig auf. Innerhalb weniger Minuten schnappten wir die beiden Rucksäcke, die wir Wochen zuvor 'nur für den Fall vorbereitet hatten, zogen unserer schlaftrunkenen Tochter einen Wintermantel über ihren Pyjama und verliessen unser Zuhause, ohne zurückzublicken.»
Maria und ihre Tochter gehören zu den 10 Millionen Menschen in der Ukraine, die fliehen mussten, entweder innerhalb des Landes oder ins Ausland. Doch nicht nur sie brauchen Schutz:
Tag 8
Am 8. Tag des Krieges in der Ukraine demonstrieren in Moskau wieder mutige Menschen gegen Putins Krieg. Eine Demonstrantin, deren Namen wir hier nicht nennen können, wird von der Polizei in die Mangel genommen. Sie hat aufgezeichnet, was der Polizist zu ihr sagt: (Zitat)«Es ist vorbei. Putin ist auf unserer Seite. Ihr seid die Feinde Russlands. Ihr seid die Feinde des Volkes. Wir werden euch alle töten.» Er zieht sie an den Haaren und schlägt ihr mit einer Plastikflasche ins Gesicht.
Tausende werden in Russland verhaftet, weil sie gegen den Krieg auf die Strasse gehen. Es ist eine gnadenlose Hexenjagd. Menschen stehen vor Gericht, weil sie ein weisses Blatt in die Höhe halten aus Protest, denn die Worte Krieg oder Invasion darf man in Russland schon lange nicht mehr aussprechen. Wir hören gleich noch mehr dazu. Klar ist, wer dieser Repression entkommen kann, braucht auch Schutz.
Von Tag 1 des Krieges an...
ist das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine eine Wiederholung dessen, was wir bereits in Syrien gesehen haben: Russland greift dicht besiedelte Wohngebiete an und verwandelt Fluchtrouten in Todesfallen. Die Belagerung von Mariupol gleicht der Belagerung von Aleppo in Syrien. Die Überlebenden der zerstörten Stadt kauern in Kellern, ohne Strom, ohne Wasser, Essen oder medizinische Versorgung. Die russische Armee wirft ungelenkte Bomben ab, die Spitäler, Kindergärten und Schulen treffen. Sie setzt Splittermunition und andere international verbotene Waffen ein. Das verstösst gegen das humanitäre Völkerrecht! Das sind schwere Menschenrechtsverletzungen! Das sind Kriegsverbrechen!
Wir stehen heute hier, um Gerechtigkeit zu fordern.
Tag 38
Tag 38 des Krieges und wir stehen heute hier, um Gerechtigkeit zu fordern.
Die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen, die befehlsgebenden Generäle bis hin zu Putin, müssen für diese Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt werden. Hier liegt auch Amnestys Hauptaufgabe: wir untersuchen Angriffe auf zivile Ziele – das sind Menschen, schwangere Frauen in Krankenhäusern, Kinder und ältere Menschen, die in Kellern Schutz suchen. Wir werten Bilder aus, untersuchen Bombensplitter vor Ort, sprechen mit Zeug*innen und liefern Beweise für mögliche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen.
38 Tage Krieg in der Ukraine und wir sind solidarisch...
mit den Millionen Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten. So etwas hat Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt. Die meisten Geflüchteten bleiben in Polen, wo tausende von Freiwilligen ihnen helfen. Die Solidarität ist riesig. In Polen, in Moldawien, in Deutschland und natürlich auch hier in der Schweiz.
Aber auch die Regierungen der europäischen Länder müssen dafür einstehen, dass alle Menschen, die vor dem Krieg fliehen, geschützt werden vor weiteren Menschenrechtsverletzungen, vor Gewalt, Verfolgung, Menschenhandel und Diskriminierung.
38 Tage Krieg in Europa und wir zeigen Menschlichkeit
Bislang ist Europa auf Abschottung ausgerichtet, auf Abwehr, auf Abschreckung – damit bloss nicht noch mehr Geflüchtete kommen. Hohe Zäune mit Nato-Stacheldraht, Mauern, Gewalt von europäischen Grenzsoldaten gegen hilflose Menschen und Frontex-Beamte, die zuschauen. Diejenigen, die Geflüchtete vor dem Ertrinken retten oder sich an Land für sie einsetzen, werden nicht als Held*innen gefeiert, sondern vor Gericht gestellt.
Täglich ertrinken Kinder, Frauen, Männer. Auch sie flüchten vor Krieg und Gewalt.
Verzweifelte Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak werden zurückgedrängt in die Wälder von Belarus, wo einige erfrieren und verhungern – vor unseren Augen. Vollbesetzte Boote werden von europäischen Grenz-«Schützern» auf dem Mittelmeer manövrierunfähig gemacht und zurückgeschleppt in libysche oder türkische Gewässer und dort sich selbst überlassen. Täglich ertrinken Kinder, Frauen, Männer. Auch sie flüchten vor Krieg und Gewalt. Auch sie haben ein Recht auf Asyl. Auch sie haben Anspruch auf unser Mitgefühl, unsere Hilfe, unsere Menschlichkeit.
38 Tage Krieg in der Ukraine und wir öffnen unsere Häuser und Herzen
Die grosse Solidarität, die unkomplizierte Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine, das Öffnen unserer Wohnungen zeigt, wozu wir fähig sind. In Europa. In Polen. In der Schweiz. Wir können, wenn wir wollen.
Wir können, wenn wir wollen.
Meine Hoffnung ist, dass wir jetzt an einem Wendepunkt stehen. Dass dieser Krieg wenigstens etwas bewirkt, ein Umdenken bei uns, bei den verantwortlichen Politiker*innen, hin zu mehr Solidarität. Ein Bekenntnis, dass wir Menschen schützen wollen, die Schreckliches erlebt haben – unabhängig von Herkunft, Staatszugehörigkeit, Religion oder Hautfarbe.
Um mit meiner Kollegin Maria zu enden: Sie glaubt an die Macht der Menschlichkeit, an die Macht der Menschenrechte. Dafür kämpft sie, auch jetzt. Und ihr sehnlichster Wunsch ist es, irgendwann zurück nach Hause zu können. eines Tages – nach dem Krieg.
Lasst uns mit Maria kämpfen, lasst uns diesen furchtbaren Krieg nutzen, um Menschlichkeit und Solidarität blühen zu lassen.
Wir können, wenn wir wollen.