© Chr. Offenberg / shutterstock.com
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Jahresbericht Äthiopien 2019

Ein Reformprogramm lockerte die Rechte der Zivilgesellschaft, dennoch war die Meinungsäusserungsfreiheit weiterhin eingeschränkt. Ethnische Konflikte führten zu vielen Toten.

Amtliche Bezeichnung: Demokratische Bundesrepublik Äthiopien
Staatsoberhaupt: Sahle-Work Zewde
Regierungschef: Abiy Ahmed Ali

Überblick

Im Rahmen ihres Reformprogramms hob die Regierung im Februar 2019 die Gesetze über zivilgesellschaftliches Engagement auf, durch die die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäusserung eingeschränkt worden waren. Die Regierung brachte ausserdem einen Entwurf für ein Gesetz ins Parlament ein, das die drakonischen Antiterrorgesetze ablösen soll. Gleichzeitig waren zahlreiche JournalistInnen und andere KritikerInnen der Regierung weiterhin von willkürlichen Festnahmen, rechtswidrigen Inhaftierungen über längere Zeiträume hinweg sowie von unfairen Gerichtsverfahren bedroht. Es kam zu einer Welle von Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, bei dem Hunderte Menschen zu Tode kamen. Die Streitkräfte töteten mindestens neun Protestierende, unter ihnen auch Kinder.

Hintergrund

2019 erhielt Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali den Friedensnobelpreis für seine innenpolitischen Reformen, die u. a. die Freilassung Tausender führender VertreterInnen und Mitglieder von Oppositionsparteien, die Aufhebung des Verbots von Oppositionsparteien beinhalteten, und für seine Rolle bei dem Friedensabkommen, in dessen Folge wieder Bewegung in den festgefahrenen Grenzkonflikt mit dem Nachbarland Eritrea kam. Seit dem Amtsantritt von Abiy Ahmed Ali im April 2018 hatte die Regierung zahlreiche willkürlich in Haft gehaltene JournalistInnen und BloggerInnen freigelassen.

Gewalt zwischen ethnischen Gruppen

Amnesty International dokumentierte 2019 eine Welle von Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, bei der im ganzen Land Tausende Menschen getötet wurden, weil die Sicherheitskräfte ihrer Pflicht, die Menschen zu schützen, nicht nachkamen. Vielmehr verhielt es sich so, dass die Sicherheitskräfte, vor allem die Angehörigen regionaler Polizeieinheiten und Angehörige von Milizen der Kommunalverwaltung, aktiv Partei für die ethnischen Gruppen ergriffen, zu denen sie selbst gehörten und sich dabei aktiv an Gewalttaten beteiligten.

Am 10. und 11. Januar 2019 wurden in der Kleinstadt Metema in dem Gebiet Nord-Gondar (Region Amhara) bei koordinierten Angriffen auf die Qimant etwa 60 Frauen und Männer getötet. Die Qimant sind eine ethnische Minderheit, die sich für Autonomie innerhalb der Region Amhara eingesetzt hatte. Die Angriffe wurden von einer amharischen Bürgerwehr und von Sicherheitskräften der Regionalregierung verübt. Im September forderte die Gewalt zwischen ethnischen Gruppen in der Stadt Gondar sowie in der Umgebung von Gondar, wie z. B. in Fenter, Weleqa und Azezo mindestens 30 Tote.

Ausserdem starben im September 2019 in den hauptsächlich von Qimant bewohnten Bezirken Chilga und Arbaba mindestens 30 Menschen bei Kämpfen zwischen bewaffneten Angehörigen der Qimant und den regionalen Sicherheitskräften. Zwischen dem 28. September und dem 15. Oktober wurden bei Vergeltungsangriffen auf Angehörige der Qimant und ihre Geschäfte in der Stadt Gondar und in den Städten im Umland mindestens 405 Menschen getötet.

Angehörige der ethnischen Gruppe der Gumuz töteten im April 2019 in der Region Benishangul 21 amharische EinwohnerInnen. Im Mai töteten Bewaffnete in der Awi–Zone in der Nachbarregion Amhara mindestens 100 EinwohnerInnen der ethnischen Gruppen Gumuz und Shinasha.

Nachdem föderale Sicherheitskräfte im Juli 2019 in der Stadt Hawassa eine Versammlung von MenschenrechtsverteidigerInnen und Ältesten der Sidama gewaltsam aufgelöst hatten, kam es in zahlreichen Orten in dem gesamten Gebiet von Sidama zu ethnisch motivierten Angriffen auf dort lebende Menschen. Mindestens 50 Menschen kamen durch ethnisch motivierte Gewalt sowie durch exzessive Gewaltanwendung seitens der Sicherheitskräfte, die zur Bekämpfung der Unruhen eingriffen, ums Leben. Eine vollständige Untersuchung der Tötungen durch die Regierung stand bei Jahresende noch aus.

Im Oktober starben in mehreren Städten der Regionen Oromia und Harari mindestens 74 Menschen durch Gewalt zwischen ethnischen Gruppen. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen waren bei Protesten gegen die Entscheidung der Regierung, den Personenschutz für einen politischen Aktivisten der Oromo einzustellen, ausgebrochen.

Bei ethnisch motivierten Zusammenstössen an mehreren Universitäten kamen in den Monaten November und Dezember 2019 in den Regionen Amhara und Oromia mindestens zwölf Studierende ums Leben. Nachdem an der Universität der Stadt Weldia (Region Amhara) ein zur Ethnie der Oromo gehörender Studierender getötet worden war, kam es unter anderem an den Universitäten von Dire Dawa, Dembi Dolo und Gondar zu einer Serie von Rachemorden. Etwa 35'000 Studierende verliessen die Universitäten, um der Gewalt zu entgehen, und kehrten nach Hause zurück. Im Dezember entführte eine unbekannte bewaffnete Gruppe rund 20 amharische Studierende, als diese die Universität in Dembi Dolo verliessen, um in ihre Heimatorte zurückzukehren.

Rechtswidrige Tötungen

Im Januar 2019 töteten Angehörige der äthiopischen Streitkräfte in den Städten Genda-Wuha und Kokit in der Region Amhara rechtswidrig mindestens neun Demonstrierende, unter ihnen drei Kinder. Die Streitkräfte eskortierten eine Fahrzeugkolonne, die vermeintlich Baumaschinen transportierte. Nach Ansicht der Demonstrierenden wurden mit den Fahrzeugen jedoch Waffen und Munition geschmuggelt. Als die BewohnerInnen die durch beide Städte führende Strasse blockierten, um die Fahrzeuge zu durchsuchen, gaben die Angehörigen der Streitkräfte Schüsse auf sie ab. AugenzeugInnen berichteten Amnesty International, dass die Protestierenden, während sich beide Parteien gegenüberstanden, keine gewaltsamen Mittel eingesetzt hatten. Obwohl der Stellvertretende Generalstabschef eine Untersuchung des Vorfalls bereits im Januar 2019 zugesichert hatte, verging das Jahr, ohne dass Ergebnisse bekannt gegeben wurden.

Im Oktober 2019 töteten Sicherheitskräfte bei Protesten in den Städten Ambo und Adama mindestens zwölf Menschen. Ursache der Proteste war die Entscheidung der Regierung, den Personenschutz für einen politischen Aktivisten der Oromo einzustellen.

Recht auf freie Meinungsäusserung

Ungeachtet erheblicher Fortschritte im Rahmen des 2018 eingeleiteten Reformprozesses, gab es 2019 zahlreiche willkürliche Festnahmen, vor allem von JournalistInnen und AutorInnen, die sich kritisch über die Regierung äusserten. Im August nahm die Bundespolizei in der Hauptstadt Addis Abeba acht Personen fest, weil sie die Veröffentlichung und den Vertrieb eines Buchs mit dem Titel The Hijacked Revolution (Die entführte Revolution) möglich gemacht hatten, das unter einen Pseudonym erschienen war. Die Polizei befragte sie zur Identität des Verfassers bzw. der Verfasserin und setzte einige der Festgenommenen nach einigen Wochen auf freien Fuss. Der Herausgeber kam jedoch erst Ende November frei, nachdem die Polizei den Anklagevorwurf des Terrorismus fallengelassen hatte.

Im September nahm die Polizei fünf JournalistInnen der auf Oromo erscheinenden Online-Zeitung Segele Qerro Bilisuma fest. Sie wurden nach den Bestimmungen des repressiven Antiterrorgesetzes von 2009 angeklagt und länger als zwei Monate auf dem Polizeipräsidium in Addis Abeba in Gewahrsam gehalten, bevor sie ohne Auflagen freigelassen wurden.

Als Reaktion auf die zahlreichen Vorfälle von Gewalt zwischen ethnischen Gruppen legte die Regierung dem Parlament im November 2019 einen Gesetzentwurf vor. Er sah vor, Gewalt befürwortende Äusserungen und die Verbreitung „irreführender Informationen“ unter Strafe zu stellen. Der Entwurf enthielt weit gefasste und vage formulierte Bestimmungen, die das Recht auf freie Meinungsäusserung aushöhlen würden.

Die Sicherheitskräfte der Region Tigray gingen 2019 im Verbund mit der Regionalpolizei und Milizen der Kommunalverwaltung gegen vermeintliche oder tatsächliche UnterstützerInnen der Organisation Wolkait Amhara Identity Committee vor, die in einer bei der Regionalregierung von Tigray und der Bundesregierung eingereichten Petition um die Eingliederung des Bezirks Wolkait in den Bundesstaat Amhara gebeten hatten. Betroffene und andere ZeugInnen berichteten, dass die Menschen, die aufgrund ihrer amharischen Identität, weil sie Amharisch sprachen oder amharische Musik hörten, zur Zielscheibe der Übergriffe wurden, und dann willkürlichen Festnahmen, Inhaftierungen, Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt waren.

Unfaire Gerichtsverfahren

Hunderten Mitgliedern der politischen Opposition, JournalistInnen und anderen Personen, die der Regierung kritisch gegenüber standen, drohten 2019 unfaire Gerichtsverfahren aufgrund von Anklagen nach dem Antiterrorgesetz. Rechtswidrige, lange Untersuchungshaft, unzulässige Verfahrensverzögerungen sowie immer wiederkehrende Beschwerden über Folter und andere Misshandlungen waren bei den Prozessen die Regel.

Der Ausschuss für Rechtsfragen (Legal Advisory Committee), der federführend mit der Gestaltung rechtlicher Reformen beauftragt worden war, brachte 2019 einen Entwurf für ein Terrorismusgesetz ins Parlament ein. Es war zu erwarten, dass der Entwurf das geltende Antiterrorgesetz im Lauf des Jahres 2020 ersetzen würde.

Im Februar 2019 nahm die Polizei Oberst Gemechu Ayana – ein prominentes Mitglied der Oromo-Breiungsfront (Oromo Liberation Front) – fest und hielt ihn aufgrund von Terrorismusanklagen acht Monate lang in Haft. Damit verstiess die Polizei gegen die Bestimmungen des Antiterrorgesetzes, das eine Untersuchungshaft von maximal vier Monaten vorsah. Im Dezember 2019 liessen die zuständigen Behörden die Vorwürfe gegen ihn fallen und setzten ihn auf freien Fuss.

Nach der Ermordung des Präsidenten der Region Amhara und des Generalstabschefs in Addis Abeba im Juni 2019 wurden Hunderte Frauen und Männer willkürlich festgenommen. Unter denen, die ins Visier der Behörden gerieten, waren führende Mitglieder der Partei Nationale Amhara-Bewegung (Amhara Nationalist Movement), RegierungsvertreterInnen, JournalistInnen und Mitglieder des Übergangskomitees von Addis Abeba (Addis Ababa Care Taker Council), einer Organisation, die sich für die administrative Eigenständigkeit der EinwohnerInnen von Addis Abeba einsetzt. Bevor im November der Prozess gegen sie eröffnet wurde, waren mindestens zehn Straftatverdächtige unter dem Vorwurf der terroristischen Betätigung vier Monate lang in Untersuchungshaft. Die Polizei nahm ausserdem einen Journalisten fest, der die Vorverhandlungen besuchte und klagte ihn zusammen mit den anderen Straftatverdächtigen wegen Terrorismus an.

Im Juli 2019 wurden zahlreiche MenschenrechtsverteidigerInnen der Sidama wegen des Verdachts, im selben Monat in dem Gebiet der Sidama zur Gewalt zwischen ethnischen Gruppen angestiftet zu haben, festgenommen. Unter ihnen waren auch Angestellte und Führungskräfte der Medienorganisation Sidama Media Network. Die Festgenommenen blieben bis Jahresende in einem Gefängnis in der Stadt Halaba ohne Anklagerhebung in Haft, 100 Kilometer von ihren Familien entfernt.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Im März 2019 stimmte das Parlament dem Gesetz Nr. 1113/19 über zivilgesellschaftliche Organisationen zu, mit dem das Gesetz Nr. 621/09 über gemeinnützige Organisationen und Verbände ausser Kraft gesetzt wurde. Das neue Gesetz lockerte die Einschränkungen für die Finanzierung von Gruppen aus dem Ausland sowie die Durchführung von Menschenrechtsarbeit und -aktivitäten. Es erleichterte auch die Möglichkeiten von AusländerInnen und Personen mit Auslandswohnsitz, sich in den Bereichen Beobachtung und Förderung der Menschenrechte, Konfliktlösung und Korruptionsbekämpfung