Augenzeug*innen jüngster Gräueltaten im äthiopischen West-Tigray berichteten Amnesty International und Human Rights Watch von Strassen, die mit Leichen übersät waren. Tigrayische Zivilpersonen, die versucht haben, der neuen Welle der Gewalt zu entkommen, wurden angegriffen und getötet. Für viele Menschen sind die Haftbedingungen lebensbedrohlich. Sie erfahren Folter, Hunger und Verweigerung einer medizinischen Versorgung.
«Die neuen Übergriffe der Amhara-Kräfte gegen die tigrayische Zivilbevölkerung in mehreren Städten in West-Tigray sollten die Alarmglocken läuten lassen», sagte Joanne Mariner, Verantwortliche für Krisenreaktion bei Amnesty International. «Ohne sofortige internationale Massnahmen zur Verhinderung weiterer Gräueltaten sind die Menschen in Tigray, insbesondere die inhaftierten, in grosser Gefahr.»
Vertreibungen, Verhaftungen und Folter
Seit Anfang November haben Polizeikräfte und Milizen der Region Amhara, darunter auch als «Fanos» bekannte Milizen, systematisch Menschen aus Tirgray in Adebai, Humera und Rawyan zusammengetrieben. Sie trennten Familien und nahmen erwachsene und minderjährige Zivilpersonen ab 15 Jahren fest. Sie haben Frauen und jüngere Kinder sowie kranke und ältere Menschen aus dem Gebiet vertrieben. Einige der Vertriebenen sind inzwischen in Zentral-Tigray eingetroffen, während andere noch verschwunden sind.
Sechs Zeug*innen berichteten, dass Amhara-Kräfte auf Menschen schossen, die vor den Razzien in Adebai fliehen wollten, und die Soldaten mit Stöcken und scharfen Gegenständen angriffen. Eine unbekannte Zahl wurde getötet.«Sie fingen an, auf jeden zu schiessen, der sich in Reichweite befand», sagte ein 34-jähriger Bauer aus Adebai, der überlebte, weil er vor den angreifenden Fano-Milizen auf nahe gelegene Felder fliehen konnte. «Als die Menschen versuchten zu fliehen... griffen [die Fano] sie mit Macheten und Äxten an, so dass niemand entkommen konnte... Wir liefen an Leichen vorbei und standen alle unter Schock...»
Drei ehemalige Häftlinge des Humera-Gefängnisses, von denen einige bis zu fünf Monate inhaftiert waren, bevor sie im November fliehen konnten, berichteten, dass die amharischen Behörden sie über längere Zeit in extrem überfüllten Zellen festhielten. Die Wärter verweigerten ihnen Nahrung und medizinische Versorgung und folterten und schlugen die Gefangenen, deren Hände und Füsse gefesselt waren, mit Stöcken und Gewehren. Ein ehemaliger Häftling, der am 19. Juli verhaftet wurde, entkam um den 13. November herum, als er die Leichen von Mitgefangenen auf einen Traktor laden musste. Er sagte, er wisse von 30 Menschen, die während seiner Gefangenschaft gestorben seien, darunter sieben der 200 Männer in seiner Zelle: «Alle von uns haben das [die Schläge] durchgemacht, aber am schlimmsten war es für die schwächeren älteren Männer», sagte er.
Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht
Die Verantwortlichen auf äthiopischer Seite müssen die Angriffe auf die Zivilbevölkerung sofort einstellen. Ausserdem müssen sie die Freilassung willkürlich Inhaftierter veranlassen sowie Hilfsorganisationen und Organisationen mit einem Mandat zum Besuch von Haftzentren ungehinderten Zugang zum Westen von Tigray gewähren, fordern Amnesty International und Human Rights Watch.
Vertreibungen und vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung verstossen gegen das humanitäre Völkerrecht. Auch in Gewahrsam haben alle Gefangenen das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung, wozu auch der Zugang zu angemessener Nahrung und medizinischer Versorgung gehört. Eine Anordnung zur Vertreibung von Zivilpersonen aus Gründen, die nicht für deren Sicherheit erforderlich oder militärisch zwingend sind, ist ein Kriegsverbrechen. Dasselbe gilt für Angriffe auf Zivilpersonen, die nicht direkt an den Kampfhandlungen beteiligt sind, sowie für Folter oder sonstige Misshandlungen von Gefangenen.
Hintergrund
Im November und Dezember führten Amnesty International und Human Rights Watch Telefoninterviews mit 31 Personen, darunter 25 Zeug*innen und Überlebende sowie Angehörige von Inhaftierten und Vertriebenen, über Übergriffe durch Amhara-Milizen und regionale Sicherheitskräfte gegen tigrayische Zivilpersonen in den Städten Adebai, Humera und Rawyan.
Amnesty International verifizierte zudem Satellitenaufnahmen. Auf den Bildern, die zwischen dem 19. November und dem 5. Dezember erstellt wurden, sind Fahrzeugbewegungen, Menschengruppen um ein behelfsmässiges Gefangenenlager, grosse Mengen an Schutt auf der Hauptstrasse sowie ausgebrannte Gebäude in Adebai zu sehen.
Am 2. Dezember 2021 berichtete das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), dass 1,2 Millionen Menschen seit Beginn des Konflikts aus West-Tigray vertrieben worden sind. In einem UN-Bericht vom 9. Dezember heisst es, dass zwischen dem 25. November und dem 1. Dezember über 10'000 Tigrayer*innen aus West-Tigray vertrieben wurden. Darin steht auch, dass der Westen von Tigray aufgrund von Sicherheitsbedenken für Hilfsorganisationen unzugänglich ist.