Sicherheitskräfte und Behördenvertreter*innen der äthiopischen Region Amhara haben im Westen der angrenzenden Region Tigray seit November 2020 umfassende Menschenrechtsverletzungen an der tigrayischen Bevölkerung begangen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Zu diesem Schluss kommen Amnesty International und Human Rights Watch in dem gemeinsamen Bericht «‘We Will Erase You From This Land’: Crimes Against Humanity and Ethnic Cleansing in Ethiopia’s Western Tigray Zone» (PDF 240 Seiten).
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die Recherchen belegen, dass die Behörden in West-Tigray sowie Sicherheitskräfte aus der benachbarten Region Amhara mehrere hunderttausend tigrayische Zivilpersonen systematisch vertrieben haben – unter Einsatz von Drohungen, aussergerichtlichen Tötungen, sexualisierter Gewalt, willkürlichen Massenfestnahmen, Plünderungen, Zwangsumsiedlungen und der Verweigerung humanitärer Hilfe. All dies geschah mit Billigung und unter möglicher Beteiligung der nationalen äthiopischen Streitkräfte. Diese umfassenden und systematischen Angriffe gegen die tigrayische Zivilbevölkerung stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen dar.
«Als sie auf uns schossen, fiel ich als erster, und dann sah ich auch, wie die anderen vor mir erschossen wurden und fielen.» Ein 74-jähriger Überlebender
Sicherheitskräfte trieben tausende Tigrayer*innen zusammen, um sie unter unwürdigen Bedingungen einzusperren und zu misshandeln. Tausende Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und dabei rassistisch beleidigt. Die Behörden stellten Schilder auf, die Menschen aus Tigray aufforderten, die Region zu verlassen. Der Zugang zur Region wurde massiv eingeschränkt, sodass kaum humanitäre Hilfe zu den Menschen gelangt und Hunderttausende von einer Hungersnot bedroht sind.
«Seit November 2020 führen Amhara-Sicherheitskräfte eine unerbittliche Kampagne durch, um Tigrayer*innen aus dem Westen der Region zu vertreiben», sagt Kenneth Roth, Geschäftsführer von Human Rights Watch. «Die äthiopische Regierung hat das schockierende Ausmass dieser Verbrechen beharrlich geleugnet und nichts getan, um sie zu verhindern.»
«Reaktionen der internationalen und regionalen Partner Äthiopiens werden der Schwere der Verbrechen, die in West-Tigray verübt werden, nicht gerecht», sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. «Es muss alles dafür getan werden, den unmenschlichen Grausamkeiten ein Ende zu setzen. Die äthiopische Zentralregierung und die Regionalregierungen müssen gewährleisten, dass die tigrayische Bevölkerung sicher und auf freiwilliger Basis in ihre Heimat zurückkehren kann, und gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um Gerechtigkeit für diese abscheulichen Verbrechen zu erreichen.»
Die Menschenrechtsorganisationen fordern von der äthiopischen Regierung, Hilfsorganisationen umgehend ungehinderten Zugang zu der Region zu gewähren, alle willkürlich Inhaftierten freizulassen und Menschenrechtsverstösse zu untersuchen, um angemessen gegen die Verantwortlichen vorgehen zu können. Die Konfliktparteien sollten der Entsendung einer internationalen Friedenstruppe unter Führung der Afrikanischen Union nach West-Tigray zustimmen, um den Schutz aller Bevölkerungsgruppen vor Übergriffen zu gewährleisten.
Über einen Zeitraum von 15 Monaten führten Amnesty International und Human Rights Watch Interviews mit mehr als 400 Personen. Die Researcher*innen begutachteten auch medizinische und forensische Berichte sowie Gerichtsdokumente und verifizierten Satellitenbilder sowie Foto- und Videobeweise. Sowohl die äthiopischen Streitkräfte als auch die amharischen Behörden haben ethnische Säuberungen in West-Tigray von sich gewiesen.
Kampagne der ethnischen Säuberung
Die Sicherheitskräfte der Region Amhara, Milizen und neu ernannte Behörden führten ab Ende 2020 eine koordinierte Kampagne zur gezielten ethnischen Säuberung durch. In mehreren Städten in West-Tigray wurden Tigrayer*innen auf Schildern aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Es tauchten Flugblätter auf, in denen ein Ultimatum von 24 oder 72 Stunden gestellt wurde, das Gebiet zu verlassen oder getötet zu werden.
Die Behörden haben Tausende von Tigrayer*innen zusammengetrieben, um sie langfristig in überfüllten Einrichtungen zu inhaftieren und zu misshandeln. Amnesty International und Human Rights Watch gehen davon aus, dass Tausende von Tigrayer*innen noch heute unter lebensbedrohlichen Bedingungen festgehalten werden. Die Sicherheitskräfte setzten Gruppenvergewaltigungen ein, begleitet von verbalen und körperlichen Misshandlungen, Entführungen und sexueller Sklaverei.
Die Behörden in West-Tigray schränkten die Bewegungsfreiheit, die humanitäre Hilfe, das Sprechen der Tigrinya-Sprache und den Zugang zu Ackerland ein, um die Bewohner*innen von Tigray zum Verlassen des Landes zu zwingen. Die Sicherheitskräfte der Amhara und mancherorts auch eritreische Kräfte, die in West-Tigray präsent sind, plünderten Ernten, Vieh und Ausrüstung und beraubten die Lokalbevölkerung ihrer Lebensgrundlage. Viele tigrayanische Gemeinschaften sahen sich angesichts von Hunger und Einschüchterung gezwungen, das Land zu verlassen.
Diese koordinierte Kampagne setzte sich über Monate hinweg fort. Bis März 2021 waren Zehntausende Menschen aus Tigray geflohen oder vertrieben worden. Im November 2021 eskalierten die Misshandlungen und Vertreibungen erneut, als Zehntausende ältere und kranke Tigrayer*innen, junge Mütter und Kinder vertrieben wurden, während die Amhara-Kräfte Tausende erwachsene Männer festnahmen und auf diejenigen schossen, die zu fliehen versuchten.
Massaker beim Tekeze-Fluss
Am 17. Januar 2021 trieben Amhara-Milizen, die so genannten Fanos, und Anwohner*innen Dutzende männliche tigrayische Einwohner der Stadt Adi Goshu zusammen und nahmen sie fest.
Mitglieder der Amhara-Spezialeinheiten trieben rund 60 tigrayische Männer zusammen und richteten sie am Tekeze-Fluss hin. Zeugen und die wenigen Männer, die überlebten, glaubten, dass es sich bei den Morden um einen Racheakt handelte, nachdem die Amhara-Kräfte in der vorangegangenen Nacht bei Kämpfen mit tigrayischen Truppen schwere Verluste erlitten hatten.
«Als sie auf uns schossen, fiel ich als erster, und dann sah ich auch, wie die anderen vor mir erschossen wurden und fielen», sagte ein 74-jähriger Überlebender. «Die Leute hinter mir fielen auf mich und deckten mich... Danach sagten sie: ‘Die Tigrayer sterben nicht so leicht, schiesst noch einmal’.»
Das Massaker löste einen Massenexodus von Tigrayer*innen aus Adi Goshu aus.
Zahlreiche Tote in Gefängnissen
Ehemalige Gefangene, die an verschiedenen Orten in Tigray inhaftiert waren, berichteten, dass viele Menschen in den von den Amhara-Kräften und den Fano-Milizen betriebenen Haftanstalten starben. Einige starben an den Folgen von Folter, verweigerter medizinischer Versorgung sowie Nahrungs- und Wassermangel; andere wurden von den Wachen getötet. Ein 72-jähriger Bauer sagte: «Sie [die Amhara-Milizen] sagten uns immer wieder, dass die Tigrayer*innen es verdienen, zu verhungern, zu sterben.»
Sowohl die äthiopischen Streitkräfte als auch die Amhara-Behörden haben die Vorwürfe der ethnischen Säuberung in West-Tigray zurückgewiesen. Am 25. Februar wandten sich Amnesty International und Human Rights Watch schriftlich an die äthiopische Regierung und die Behörden in Amhara und Tigray und berichteten über die Erkenntnisse der Organisationen. Zum Zeitpunkt der Publikation dieses Berichts hatte nur die Regionalregierung von Amhara geantwortet.
In bewaffneten Konflikten sind alle Parteien verpflichtet, das humanitäre Völkerrecht und das Kriegsrecht zu achten. Die Streitkräfte der Amhara-Region und die mit der äthiopischen Regierung verbündeten Kräfte in der westlichen Tigray-Zone begingen Kriegsverbrechen wie Mord, Folter, Vergewaltigung, Deportation und gewaltsame Verbringung sowie Verschwindenlassen. Solche Verstösse stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Die äthiopische Bundesregierung und ihre internationalen und regionalen Partner sollten konkrete Schritte unternehmen, um alle Gemeinschaften in West-Tigray zu schützen, unter anderem durch die sofortige Freilassung der dort willkürlich inhaftierten Tigrayer*innen. Am 24. März kündigte die Regierung einen humanitären Waffenstillstand an. Unabhängig von einer Waffenruhe sollten die äthiopischen Bundes- und Regionalbehörden ungehinderte, unabhängige und nachhaltige humanitäre Hilfe zulassen.
Die Regierung sollte ausserdem alle missbräuchlichen Milizen in West-Tigray demobilisieren und entwaffnen sowie die Amhara-Spezialeinheiten und die äthiopischen Bundesbehörden überprüfen und diejenigen, die in schwere Misshandlungen verwickelt sind, zur Rechenschaft ziehen, fordern Amnesty International und Human Rights Watch. Zivile Beamte, einschliesslich der Interimsbehörden in West-Tigray, und Angehörige der Sicherheitskräfte, die in schwere Übergriffe verwickelt sind, sollten bis zum Abschluss der Untersuchungen suspendiert werden.
Die Konfliktparteien sollten der Entsendung einer internationalen Friedenstruppe unter Führung der Afrikanischen Union nach West-Tigray zustimmen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um die Menschenrechte gefährdeter Gemeinschaften in Tigray zu schützen und humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Die internationalen und regionalen Partner Äthiopiens sollten diese Forderungen unterstützen.