Die gemeinsame Untersuchung von Amnesty International und der angolanischen Menschenrechtsorganisation OMUNGA geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Toten noch viel höher ist.
Auf Grundlage von Interviews mit Bekannten und Angehörigen von sieben Opfern sowie Augenzeugenberichten haben Amnesty International und OMUNGA Details der Tötungen rekonstruieren können. Die angolanischen Sicherheitskräfte setzten wiederholt exzessive und rechtswidrige Gewalt ein, um gegen Verletzungen der Ausgangsvorschriften vorzugehen, die während des Covid-19-Ausnahmezustands verhängt wurden.
«Die Geschichten, die wir von Angehörigen und AugenzeugInnen hören, sind erschütternd.» Deprose Muchena, Regionaldirektor für das südliche Afrika bei Amnesty International.
«Die Geschichten, die wir von Angehörigen und AugenzeugInnen hören, sind erschütternd», sagt Deprose Muchena, Regionaldirektor für das südliche Afrika bei Amnesty International. «Einem Teenager wurde ins Gesicht geschossen, als er verletzt am Boden lag; ein anderer wurde getötet, als die Polizei auf eine Gruppe von Jugendlichen schoss, die auf einem Sportplatz übten. Ein Ausnahmezustand ist keine Rechtfertigung für derart skandalöse Menschenrechtsverletzungen
«Es muss eine umfassende, unabhängige, unparteiische, transparente und wirksame Untersuchung der Tötungen durchgeführt werden und die Täter müssen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden. Bei der Durchsetzung von Präventionsmassnahmen gegen die Covid-19-Pandemie muss eine wirkliche Kontrolle stattfinden, um sicherzustellen, dass sich die angolanischen Sicherheitskräfte an die internationalen Menschenrechtsstandards halten.»
Opfer stammen allesamt aus Armenvierteln
Amnesty International und OMUNGA haben die Tötung der sieben Buben und jungen Männer durch die Sicherheitskräfte verifiziert. Sie erhielten vielfältige Augenzeugenberichte über den Einsatz von exzessiver Gewalt und Schusswaffen, der sich häufig gegen marginalisierte Gemeinschaften richtet. Alle Tötungen ereigneten sich in ärmeren Vierteln. Sowohl die Polizei (Polícia Nacional de Angola – PNA) als auch die angolanischen Streitkräfte (Forças Armadas Angola – FAA) sind mutmasslich für die Taten verantwortlich.
Am Abend des 13. Juli wurde José Quiocama Manuel, ein Motorradtaxifahrer bekannt unter dem Namen Cleide, von der Polizei erschossen, als er auf dem Weg zum Haus eines Freundes im Viertel Prenda in der Gemeinde Luanda unterwegs war. Nach Berichten von Augenzeugen und Augenzeuginnen riefen gegen Mitternacht im Viertel Leute, dass die Polizei käme. Cleide und Maurício, ein 16-jähriger Junge, versuchten, sich zu verstecken, doch die Polizei schoss auf sie. Maurício wurde in die Schulter geschossen und überlebte, doch Cleide war sofort tot.
Am 4. Juli schoss die Polizei dem 16-jährigen Clinton Dongala Carlos in den Rücken. Clinton Dongala war auf dem Heimweg vom Abendessen bei seiner Tante in der Gemeinde Cacuaco in der Provinz Luanda, nur 300 Meter von seinem Zuhause entfernt. Augenzeugenberichten zufolge wurde Clinton Dongala von einer Gruppe von fünf Sicherheitsbeamten gejagt; ein Beamter schoss Clinton in den Rücken, während dieser versuchte, sein Elternhaus zu erreichen.
Laut den AugenzeugInnen fragten die Uniformierten nach Wasser und schütteten es Clinton Dongala ins Gesicht, als er verletzt am Boden lag. Dann hörten die NachbarInnen, die sich in Todesangst versteckten, einen zweiten Schuss. Als die Uniformierten abzogen, sahen sie, dass Clinton Dongala ins Gesicht geschossen worden war.
Die BeamtInnen fingen ohne jede Vorwarnung an, auf die Jungs zu schiessen, die in alle Richtungen flüchteten.
Am 3. Juli gegen 7 Uhr erschoss die Polizei Mabiala Rogério Ferreira Mienandi, den seine Familie Kilson nannte. Kilson war mit einer Gruppe von FreundInnen auf einem Sportplatz. Sie spielten Fussball und tanzten. Laut AugenzeugInnen näherte sich ein Polizeifahrzeug und die BeamtInnen fingen ohne jede Vorwarnung an, auf die Jungs zu schiessen, die in alle Richtungen flüchteten, um sich in Sicherheit zu bringen. Kilson wurde getroffen. Die AugenzeugInnen berichten, dass dann drei Polizisten aus dem Auto stiegen und sich Kilson näherten. Sie traten ihn dreimal und fuhren dann wieder davon.
Missbrauch der Notstandsmassnahmen
«Die Behörden nutzen die Notstandsmassnahmen, um willkürlich die Menschenrechte einzuschränken. Der Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte sollte immer eine Ausnahme sein und muss mit den internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen des Landes in Einklang sein, insbesondere die Verpflichtung, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu achten und zu schützen. So steht es in Artikel 3 des Verhaltenskodex der Vereinten Nationen für Beamte mit Polizeibefugnissen; dieser schreibt vor, dass Ordnungskräfte Gewalt nur einsetzen dürfen, wenn dies unbedingt erforderlich ist und nur in dem Masse, das nötig ist, um ihrer Pflicht nachkommen zu können», sagte João Malavindele, geschäftsführender Direktor von OMUNGA.
«Das äusserste Ziel bei der Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 sollte der Schutz von Leben und Lebensgrundlagen sein. Wenn Sicherheitskräfte für die Tötung von Menschen verantwortlich sind, wird dieser Zweck ad absurdum geführt.»
Ein junger Mann mit Vorerkrankungen starb bei einem Vorfall, bei dem ihn die Polizei einschüchterte und erniedrigte: Am Morgen des 17. Juni war der 20-jährige João de Assunção auf dem Weg zum öffentlichen Badehaus des Ortes Palanca in der Provinz Luanda, als ihn Angehörige der Nationalpolizei anhielten. João de Assunção sagte, er würde seine Maske holen, doch die Polizisten forderten ihn auf einen Salto zu machen, während sie mit den Waffen auf sein Gesicht zielten. João de Assunção erwiderte, er sei müde und krank und könne das nicht tun. Daraufhin schoss ein Polizist neben Joãos Kopf in die Luft, um diesen einzuschüchtern. João de Assunção fiel zu Boden. Die Nachbarinnen sagten den Beamten, dass João de Assunção Probleme mit dem Herzen und Bluthochdruck habe. Er wurde in das Hospital Cajueiros gebracht, wo er verstarb. Die Ergebnisse der Autopsie sind nicht veröffentlicht worden.
Ein Beamter jagte den 15-jährigen Altino Holandês Afonso und schoss ihm unmittelbar vor der Tür seiner Tante in den Bauch.
Am Abend des 5. Juni ging der 15-jährige Altino Holandês Afonso seine Grossmutter und eine Tante in ihrer Gemeinschaftsküche besuchen. Kurz nach seiner Ankunft fing die Polizei an, auf der Strasse zu schiessen – vermutlich, um die Leute auseinanderzutreiben. AugenzeugInnen berichteten Amnesty International und OMUNGA, dass ein Beamter Altino Holandês Afonso jagte und ihm unmittelbar vor der Tür seiner Tante in den Bauch schoss. Die AugenzeugInnen vermuteten, dass der Beamte betrunken gewesen war.
Das jüngste Opfer der Recherchen von Amnesty International und OMUNGA ist der 14-jährige Mário Palma Romeu, bekannt als Marito. Er wurde am Morgen des 13. Mai von der Polizei erschossen. Marito war unterwegs auf dem Tombasstrandplatz in der Gemeinde Benguela, um für seine Mutter einzukaufen. An dem Morgen hatten junge Männer, die auf den Fischerbooten desselben Strandes arbeiteten, einen Aufstand gegen die Pandemiemassnahmen begonnen und die Polizei war gerufen worden, um einzugreifen. Ein Polizeibeamter schoss zweimal in die Luft, um die jungen Männer auseinanderzutreiben. Der zweite Schuss traf Marito. Er war sofort tot.
Am 9. Mai schossen Polizeibeamte auf den 21-jährigen António Vulola, bekannt als Toni Pi, der FreundInnen zu Besuch hatte, um die Geburt seines ersten Kindes zu feiern. Laut AugenzeugInnen begleiteten Toni Pi und sein Freund André andere FreundInnen gegen 22 Uhr zur Bushaltestelle. Auf dem Weg zurück, sahen sie wie fünf Beamte der Nationalpolizei ein Treffen von jungen Leuten mit Schlägen auflösten. Sie rannten nach Hause, da sie keine Masken trugen. Die Polizeibeamten schossen auf sie und trafen Toni Pi tödlich am Kopf.
Gegen die BeamtInnen, die mutmasslich für den Tod von Mário, Altino, Clinton, Mabiala Kilson, João, António und Cleide verantwortlich sind, wird ermittelt. Der Verein Mãos Livres leistet Rechtsberatung, um sicherzustellen, dass die Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen umgehend, umfassend, unabhängig und unparteiisch untersucht werden.
«Die angolanischen Behörden müssen sicherstellen, dass die laufende Untersuchung zügig, unabhängig und unparteiisch verläuft. Die mutmasslich für die Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen verantwortlichen Beamten müssen zur Rechenschaft gezogen werden und die Familien müssen Gerechtigkeit, Wahrheit und Entschädigung erhalten» fordert João Malavindele.