Demokratische Republik Kongo Ein zweites Leben für Kindersoldaten

April 2010
Seit 15 Jahren arbeitet Murhabazi Namegabe daran, Kindersoldaten und -soldatinnen wieder in die kongolesische Gesellschaft einzugliedern. Dank seines Freiwilligen-Büros für Kinder und Gesundheit (BVES) in Bukavu im Osten Kongos erhalten Hunderte von Kindern und Jugendlichen wieder Hoffnung auf ein normales Leben.

© Fabrice Praz

 

Amnesty International: In welchem Zustand treffen die ehemaligen Kindersoldaten bei Ihnen im Zentrum ein, nachdem sie entwaffnet wurden?

Murhabazi Namegabe: Sie kommen in einem Zustand von purer Feindseligkeit. Man muss sich Tag und Nacht um sie kümmern, denn die Kinder waren ja nicht bei diesen bewaffneten Gruppierungen, um zu spielen! Diese Gruppen sind wahre Todeskommandos: Nur vier von zehn Kindern haben die Chance zu überleben und in unsere Zentren zu kommen. Eines Tages haben wir ein junges Mädchen von 14 Jahren aufgelesen. Eine bewaffnete Gruppe war in ihr Dorf eingefallen. Vor ihren Augen haben Männer ihre Eltern vergewaltigt. Als die Gruppe verschwunden war, kam eine andere bewaffnete Gruppe und gab vor, ihr zu helfen. Sie haben ihr vorgeschlagen, sie solle sich der Gruppe anschliessen, um sich an den anderen zu rächen. Was konnte sie schon tun? Sie ging mit. Doch dann machten sie die Männer zu ihrer Sexsklavin, und sie musste dieselben schrecklichen Szenen erleben, die ihre Eltern bereits durchlitten hatten. Es kommen auch Kinder zu uns, die bei Kämpfen verletzt wurden und Tage ohne Hilfe und medizinische Pflege hinter sich haben. Sie treffen vor Schmerzen weinend bei uns ein. Es ist eine sehr heikle Aufgabe. 2009 litt ich selber derart unter Stress, dass ich für einige Zeit meine Arbeit niederlegen musste, um mich in medizinische Pflege zu begeben. Ab einem bestimmten Moment erträgt man die Dinge nicht mehr, die man zu hören bekommt, die man sieht und die man mit diesen Kindern erlebt. Nicht zu reden von den täglichen Drohungen, die auf uns lasten.

Kindersoldaten der Mai-Mai-Milizen © AIWie werden aus Kindern Soldaten gemacht?

Die Kinder werden rekrutiert oder entführt und dann in den Busch oder die Wälder in behelfsmässige Lager gebracht. Zuallererst versuchen die Chefs, den Kontakt der Kinder zu ihren Familien oder zu ihrer Gemeinschaft zu kappen, um sie danach entmenschlichen und kontrollieren zu können.

Manche Mädchen haben uns erzählt, dass sie sich nach Ankunft im Lager komplett ausziehen mussten und gezwungen wurden, die Männer eine Woche lang nackt zu bedienen. So sollen sie von der zivilisierten Welt abgeschnitten werden. Nach dieser Initiation bringen ihnen die Kämpfer den Umgang mit den Waffen bei. Nach knapp zwei Wochen werden die Kinder für kampfbereit erklärt. Diese Art der Ausbildung geschieht hastig und unter der permanenten Gefahr, von anderen Gruppen angegriffen zu werden. Wir haben Berichte von Kindern erhalten, die sich selbst angeschossen haben, weil sie in der kurzen Zeit nicht lernen konnten, wie sie das Gewehr bedienen müssen.

 

Die internationale Gemeinschaft hat mehrere Kriegsfürsten der Justiz übergeben. Welche Auswirkung hat dies vor Ort?

Die Urteile haben einen gewissen abschreckenden Effekt. Jene Führer der bewaffneten Gruppen, die sich selbst im tiefsten Busch übers Radio informieren, nehmen die Drohung der internationalen Justiz ernst. Sie haben ihr Vorgehen verändert. Sie verstecken die Kinder und streiten ab, dass sie sie als Soldaten missbrauchen. Von den Kindern verlangen sie, ihr wahres Alter zu verschweigen. Diesen Männern wird immer stärker bewusst, dass die Justiz zwar vielleicht oft zu spät handelt, aber nie ganz abwesend ist. Doch es gibt auch viele Kriegsherren, die unter Drogen stehen und verrückt geworden sind von all den Verbrechen, die sie an der Zivilbevölkerung begangen haben. Diese haben alle Verbindungen zur Aussenwelt abgeschnitten.

 

Wie verhandeln Sie um die Freilassung der Kinder, wenn Sie diesen gewalttätigen und zugedröhnten Kriegsfürsten begegnen?

Von einem Rebellenführer die Herausgabe der Kindersoldaten zu verlangen, ist eine extrem gefährliche und harte Arbeit. Oft werfen sie uns vor, dass wir von einer gegnerischen Gruppe stammen würden. Als Gegenleistung für die Freilassung eines Kindes wurden wir auch schon einmal in Geiselhaft genommen; man hat von uns Lösegeld verlangt. Wir wurden verhaftet und in blutverschmierte Zellen gesteckt. Die Entführer haben uns geschildert, wie sie am Vortag jene Menschen töteten, die sie am gleichen Ort festgehalten hatten.

 

Wie bringen Sie unter diesen Umständen die Kriegsführer trotzdem dazu, Kinder freizulassen?

Wir haben nicht viele Möglichkeiten. Wir wollen Stärke demonstrieren, indem wir in Gruppen von zehn oder zwanzig Leuten in die Verhandlungen gehen. Und wir versuchen, die Führer der bewaffneten Gruppen davon zu überzeugen, dass es nützlich ist, die Kinder zu verschonen. In der Demokratischen Republik Kongo sind 60 Prozent der Bevölkerung Kinder. Wenn sie alle die Schule abbrechen oder gar sterben, wer wird sich um die Gemeinschaften kümmern, wenn der Krieg zu Ende ist?

Auf offizieller Ebene gibt es Fortschritte. 2004 haben wir einen ersten Sieg errungen mit der Schaffung eines offiziellen Programms, dass für die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der Kinder sorgt. Dieses Programm wird von der Uno-Mission im Kongo und von Unicef unterstützt, die uns erlauben, die Entwaffnung der Kinder im Namen des Gesetzes zu fordern. Im Januar 2009 erzielten wir einen neuen Erfolg: Erstmals wurde eine Gesetzgebung zum Schutz der Kinder angenommen, die den Einsatz von Soldaten unter 18 Jahren verbietet.

 

Wie können die ehemaligen Kindersoldaten wieder in die Gesellschaft integriert werden?

Während sich ein Kind in unserem Zentrum befindet, versucht es gemeinsam mit den Sozialarbeitern, einen Plan für sein Leben zu entwickeln. Es analysiert seine Möglichkeiten und Talente und prüft, ob es wieder in die Schule gehen oder einen Beruf erlernen kann. Wenn die Kinder in ihre Familien zurückgekehrt sind oder eine Ausbildung begonnen haben, betreuen wir sie weiter. Wir besuchen sie einmal im Monat. In den Gemeinden haben wir Verbindungsstellen geschaffen. Sie helfen uns sicherzustellen, dass die Kinder nicht erneut von bewaffneten Gruppen aufgegriffen werden.

 

Was passiert mit jenen, die keine Familie haben und ganz alleine sind?

Leider können wir in manchmal die Familie eines Kindes nicht finden. In diesen Fällen suchen wir eine Lösung in der Stadt. Wir haben eine Strategie für Wohnheime entwickelt. Es handelt sich um Unterkünfte, in der mit der Betreuung des BVES vier Kinder leben, die etwa gleich alt sind. Diese Wohnheime werden für die Kinder zur Familie. Wir können sie für die Schule oder eine Berufslehre anmelden, bis sie selbstständig sind.

 

Auch junge Mädchen werden von den bewaffneten Gruppen rekrutiert. Wie sieht ihr Schicksal aus?

Die Mädchen sind von der Ausnutzung in den bewaffneten Gruppen stärker gezeichnet. Sie werden in einem sehr jungen Alter entführt, etwa mit 8 bis 12 Jahren, und danach als Sexsklavinnen missbraucht und der sexuellen Gewalt unterworfen. Oft haben sie gesundheitliche Probleme, leiden an Geschlechtskrankheiten, müssen mitten im Busch abtreiben oder erleiden belastende Schwangerschaften. Es ist sehr schwierig, sie aus diesem Elend zu befreien und wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Jene Mädchen, die abtreiben mussten, oder die selber Babys haben, wollen nicht wieder in die Schule gehen. Sie brauchen eine bezahlte Beschäftigung, damit sie für sich und ihre Kinder sorgen können.