Der Bericht mit dem Titel «We dried our tears: Addressing the toll on children of Northeast Nigeria’s conflict» (PDF, 93 Seiten) untersucht, wie Kinder in den nigerianischen Bundesstaaten Borno und Adamawa vom Militär rechtswidrig und unter grauenhaften Bedingungen festgehalten werden. So erfahren sie zusätzliches Leid, nachdem sie bereits Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Boko Haram geworden sind.
«Die Streitkräfte Nigerias müssen alle Minderjährigen freilassen, die willkürlich festgehalten werden. Weitere Menschenrechtsverletzungen, die offenbar allein darauf abzielen, Tausende Kinder zu bestrafen, müssen eingestellt werden. Viele dieser Kinder haben bereits Gräueltaten durch Boko Haram erlitten. Die Regierung sollte für Bildung und psychosoziale Betreuung für diese Kinder sorgen, dann könnten sich für den Nordosten des Landes auch neue Chancen eröffnen», so Osai Ojigho, Direktorin von Amnesty International in Nigeria.
Der Bericht zeigt zudem auf, dass internationale Geldgeber ein zweifelhaftes Programm finanzieren, dessen erklärtes Ziel es ist, ehemalige Boko-Haram-Kämpfer zu resozialisieren, das jedoch in Wirklichkeit in weiten Teilen zur rechtswidrigen Inhaftierung von Kindern und Erwachsenen geführt hat.
«Die nigerianischen Behörden müssen umgehend die Traumatisierung Tausender Kinder, die von dem Konflikt betroffen sind, angehen. Andernfalls werden sie für eine verlorene Generation verantwortlich sein», so Joanne Mariner, Expertin für Krisenreaktion bei Amnesty International.
«Das Militär hat Kinder, die den Gräueltaten von Boko Haram entkommen konnten, abscheulich behandelt. Von massenhafter rechtswidriger Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen über Misshandlung und Folter bis hin zur Duldung von sexuellem Missbrauch durch erwachsene Mitgefangene – es ist schlicht unbegreiflich, dass diejenigen Stellen, die eigentlich für den Schutz dieser Kinder zuständig sind, ihnen solchen Schaden zufügen.»
Zwischen November 2019 und April 2020 hat Amnesty International mehr als 230 Betroffene interviewt. 199 von ihnen wurden als Minderjährige Opfer von schweren Verbrechen durch Boko Haram, das nigerianische Militär oder beiden. Darunter sind 48 Kinder, die monate- oder sogar jahrelang in Militärgewahrsam gehalten worden waren. Auch 22 Erwachsene wurden interviewt, die zusammen mit Kindern inhaftiert waren.
Brutales Vorgehen von Boko Haram
Zu den Taktiken von Boko Haram zählen Angriffe auf Schulen, die Verschleppung zahlreicher Kinder, die Anwerbung und der Einsatz von KindersoldatInnen sowie die Zwangsverheiratung von Mädchen und jungen Frauen. Dies sind alles Verbrechen unter dem Völkerrecht.
Das wahre Ausmass der Entführungen wird oft unterschätzt – Boko Haram soll Tausende Kinder verschleppt haben. Ein Beispiel ist die Entführung Hunderter Schülerinnen in Chibok im Jahr 2014.
Amnesty International hat mit Mädchen und jungen Frauen gesprochen, die als Minderjährige von Boko-Haram-Kämpfern zur Ehe gezwungen worden waren. Die meisten von ihnen sagten, dass sie von der Regierung wenig bis gar keine Unterstützung bei der Rückkehr in die Schule, bei der Existenzgründung oder beim Zugang zu psychosozialer Betreuung erhalten hätten.
Inhaftierung durch das Militär
Kinder, die aus Boko-Haram-Gebieten entkommen können, sind in Gefahr, schweren Menschenrechtsverletzungen durch die nigerianischen Sicherheitskräfte zum Opfer zu fallen. Schlimmstenfalls werden sie jahrelang in Militärkasernen inhaftiert, unter Bedingungen, die Folter und Misshandlung gleichkommen.
Die allermeisten dieser Inhaftierungen sind rechtswidrig: Die meisten Kinder werden nie einer Straftat angeklagt bzw. strafrechtlich verfolgt und die Behörden verweigern ihnen den Zugang zu einem Rechtsbeistand und die Kommunikation mit ihren Familien; auch werden sie nie einem Richter vorgeführt, der die Rechtmässigkeit ihrer Inhaftierung prüfen könnte. Das Ausmass dieser weitverbreiteten rechtswidrigen Inhaftierungen könnte einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen.
Nahezu alle, die aus Gebieten unter der Kontrolle von Boko Haram fliehen, einschliesslich Kinder, werden vom nigerianischen Militär und der mit ihm verbündeten Miliz Civilian Joint Task Force «durchleuchtet». Dieser Prozess bedeutet in vielen Fällen, dass die Betroffenen gefoltert werden, bis sie «zugeben», eine Verbindung zu Boko Haram zu haben. Mutmassliche Mitglieder oder Anhänger von Boko Haram werden oft monate- oder jahrelang unter unerträglichen Bedingungen in Hafteinrichtungen wie der Kaserne Giwa in Maiduguri oder dem Militärstützpunkt Kainji im Bundesstaat Niger festgehalten.
Alle interviewten ehemaligen Gefangenen schilderten übereinstimmend und sehr detailliert ihre Haftbedingungen: extreme Überbelegung, keine Frischluft bei drückender Hitze, Ungeziefer überall und Urin und Fäkalien auf dem Boden, weil es zu wenige Toiletten gibt.
Die Bedingungen, unter denen Zehntausende Gefangene festgehalten werden, sind so extrem, dass sie Folter gleichkommen und ein Kriegsverbrechen darstellen. Immer noch befinden sich viele Kinder unter diesen Bedingungen in Haft, obwohl es Ende 2019 und Anfang 2020 Massenfreilassungen gab. Amnesty International geht davon aus, dass während des Konflikts mindestens 10‘000 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, in der Haft gestorben sind.
Das Resozialisierungsprogramm «Sicherer Korridor»
Amnesty International hat auch im Zusammenhang mit dem Resozialisierungsprogramm «Safe Corridor» Verstösse dokumentiert. Das Programm wird mit Millionen US-Dollar von der EU, Grossbritannien, den USA und anderen Geldgebern finanziert. Es umfasst ein 2016 gegründetes, vom Militär geführtes Haftzentrum ausserhalb vom Gombe, in dem mutmassliche Boko Haram-Kämpfer und -Unterstützer entradikalisiert und resozialisiert werden sollen. Bislang waren dort rund 270 «Absolventen» in mehreren Gruppen untergebracht.
Die Bedingungen in dieser Einrichtung sind zwar besser als in den übrigen Militärhafteinrichtungen, aber die meisten der Männer und Knaben sind nicht über die rechtlichen Grundlagen ihrer Inhaftierung informiert worden. Sie haben weder Zugang zu Rechtsbeständen noch zu Gerichten, um ihre Haft anzufechten. In einigen Fällen ist der vereinbarte sechsmonatige Aufenthalt auf 19 Monate verlängert worden. Diese Zeit bedeutet Freiheitsentzug und ständige Überwachung durch bewaffnete Wächter.
Ehemalige Gefangene haben Amnesty International geschildert, dass die medizinische Versorgung extrem schlecht ist. Sieben Inhaftierte sind gestorben, die meisten, wenn nicht alle, weil sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten hatten. Das Berufungsausbildungsprogramm, das Teil von «Safe Corridor» ist, könnte sich als Zwangsarbeit entpuppen, weil die meisten Insassen, wahrscheinlich sogar alle, niemals wegen einer Straftat verurteilt wurden und nun ohne jegliche Bezahlung alles Mögliche herstellen müssen – von Schuhen über Seife bis zu Möbeln.