Der Bericht Help us build our lives’: Girl survivors of Boko Haram and military abuses in north-east Nigeria (PDF, 116 p. in Englisch) untersucht, wie Mädchen den Menschenhandel und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Boko Haram überlebten, darunter Entführung, Zwangsverheiratung, Versklavung und sexualisierte Gewalt. Nach der Flucht aus der Gefangenschaft von Boko Haram erlebten viele von ihnen weitere Menschenrechtsverletzungen in langer und rechtswidriger nigerianischer Militärhaft. Diejenigen, die nicht rechtswidrig inhaftiert waren, wurden in Vertriebenenlagern sich selbst überlassen. Von dort aus wurden einige von ihnen in einem von der Regierung betriebenen Durchgangslager mit ihren Boko-Haram-Ehemännern, die sich den Behörden gestellt hatten, «wiedervereint», wodurch sie der Gefahr anhaltender Misshandlungen ausgesetzt waren.
«Diese jungen Frauen wurden ihrer Kindheit beraubt und waren unzähligen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt» Samira Daoud, Regionaldirektorin für West- und Zentralafrika bei Amnesty International
«Diese jungen Frauen wurden ihrer Kindheit beraubt und waren unzähligen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt», sagte Samira Daoud, Regionaldirektorin für West- und Zentralafrika bei Amnesty International. «Die Mädchen und Frauen zeigen bemerkenswerten Mut und versuchen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Um ihr Leben neu aufzubauen, brauchen sie dringend mehr professionelle Unterstützung durch die nigerianische Regierung und ihre internationalen Partner*innen.»,
Der Bericht basiert auf 126 Interviews, darunter 82 mit Überlebenden, die zwischen 2019 und 2024 im Nordosten Nigerias geführt wurden. Am 4. April 2024 wandte sich Amnesty International in einem Schreiben an die nigerianischen Behörden sowie an die Uno und teilte ihnen die wichtigsten Untersuchungsergebnisse mit. In seiner Antwort wies das nigerianische Militär alle Vorwürfe zurück, erklärte, dass es bei seinen Operationen die Menschenrechte einhalte, und bezeichnete die Quellen von Amnesty International, bei denen es sich in erster Linie um Überlebende handelte, als «von Natur aus unzuverlässig». UNICEF antwortete Amnesty vertraulich.
Entführung und sexualisierte Gewalt
Boko Haram hat bei Angriffen auf die Zivilbevölkerung im Nordosten Nigerias in grossem Umfang Kinder und minderjährige Teenager entführt.
Mindestens acht der befragten Mädchen mussten mit ansehen, wie Boko Haram ihre Angehörigen tötete. CA*, die 2014 im Alter von etwa 13 Jahren entführt wurde, sagte: «Eines Tages kamen Boko Haram-Leute in unser Haus. Sie schossen meinem Vater in den Hinterkopf, und die Kugel kam durch seine Augen wieder raus. Wir fingen an zu weinen. Sie sagten, wenn wir nicht still sind, werden sie auch meine Mutter töten.»
Die meisten entführten Mädchen wurden zwangsverheiratet. Die Mädchen wurden dann als «Ehefrauen» missbraucht, von ihren «Ehemännern» sexuell versklavt und mussten ihnen in häuslicher Knechtschaft dienen. Mindestens 33 Überlebende von Zwangsehen berichteten Amnesty International, dass ihre «Ehemänner» sie vergewaltigt hätten.
Insgesamt 28 Befragte gaben an, nach Vergewaltigungen schwanger geworden und Kinder geboren zu haben. Mindestens 20 von ihnen waren selbst noch Kinder, als sie ihr Kind zur Welt brachten.
Bestrafungen und Selbstmordattentate
Alle Entführten wurde gezwungen, unter strengen Regeln zu leben, und ihre Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Jeder tatsächliche oder vermeintliche Verstoss gegen die Regeln der Boko Haram wurde mit körperlicher Bestrafung und manchmal auch mit längerem Einsperren geahndet.
Boko Haram nahm öffentliche Bestrafungen vor, um Angst zu verbreiten. Mindestens 31 befragte Mädchen wurden gezwungen, Bestrafungen wie Auspeitschungen, Amputationen und Enthauptungen mitanzusehen.
Boko Haram setzte auch in grossem Umfang Mädchen als Selbstmordattentäterinnen ein.
Menschenrechtsverletzungen in rechtswidriger Haft
Fast 50 Mädchen und jüngere Frauen berichteten Amnesty International, dass sie ihr Leben und das Leben ihrer Kinder riskierten, um Boko Haram zu entfliehen. Einige wurden vom nigerianischen Militär oder von Mitgliedern der Civilian Joint Task Force (CJTF), einer staatlich unterstützten Miliz, befreit. Doch nach der Befreiung wurden viele der Mädchen rechtswidrig festgenommen. Während des gesamten Konflikts hat das nigerianische Militär Tausende von Kindern willkürlich über längere Zeiträume inhaftiert.
31 Mädchen und junge Frauen gaben an, dass sie zwischen 2015 und Mitte 2023 zwischen einigen Tagen und fast vier Jahren in Militärgewahrsam gehalten wurden, in der Regel wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung zu Boko Haram. Einige sagten, die Soldaten hätten sie beleidigt, sie «Boko-Haram-Frauen» genannt und beschuldigt, für Tötungen verantwortlich zu sein. Mehrere berichteten von Schlägen oder entsetzlichen Haftbedingungen, die Folter und anderen Misshandlungen gleichkommen.
NV* war etwa 20 Jahre alt, als sie nach acht Jahren Gefangenschaft durch Boko Haram im Jahr 2021 entkam. Sie wurde vom nigerianischen Militär in Madagali im Bundesstaat Adamawa rund zwei Monate lang rechtswidrig festgehalten. Sie sagte: «Als sie [die Soldaten] das Essen brachten, gaben sie uns eine Portion Suppe in die Hand, die wir uns alle teilen mussten. Als Toilette gaben sie uns eine Plastiktüte.»
Keine der befragten Personen hatte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder wurde wegen einer Straftat formell angeklagt.
Kaum Unterstützung bei Wiedereingliederung
Viele der befragten Personen wurden von Behörden und Institutionen wieder mit ihren Familien zusammengeführt. Alle sind jetzt in überbevölkerten Lagern für Binnenvertriebene oder in Gemeinden in den Bundesstaaten Borno und Adamawa untergebracht. Die Befragten erwarteten und forderten professionelle staatliche Unterstützung, fühlten sich jedoch allein gelassen.
Das Stigma, eine «Boko-Haram-Frau» zu sein, ist zwar nach wie vor ein Hindernis für die Wiedereingliederung von Mädchen und jungen Frauen, doch die Situation hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Nach jahrelanger Unterdrückung durch Boko Haram, gefolgt von rechtswidriger Inhaftierung durch das Militär und der Vernachlässigung seitens der nigerianischen Behörden, schätzten viele der Befragten die Freiheit am meisten. Sie äusserten den Wunsch, finanziell unabhängig zu werden, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien sicherzustellen, und ihre Kinder in der Schule anzumelden.
«Die nigerianische Regierung kommt ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz und zur angemessenen Unterstützung dieser Mädchen und jungen Frauen nicht nach», sagte Samira Daoud. «Gemeinsam mit ihren internationalen Partner*innen müssen die nigerianischen Behörden diese Mädchen und jungen Frauen bei ihrer vollständigen Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützen, indem sie dem Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Berufsausbildung Vorrang einräumen. Sie müssen die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ihr Leben in Würde und Sicherheit wieder aufzubauen.»
Amnesty International fordert die nigerianischen Regierungsbehörden, die Uno-Organisationen und die Regierungen der Geberländer auf, dringend speziell zugeschnittene Wiedereingliederungsmassnahmen für diese Mädchen und jungen Frauen zur Verfügung zu stellen.
Hintergrund
Der interne bewaffnete Konflikt zwischen Boko Haram und den nigerianischen Streitkräften hat seit seinem Beginn vor mehr als einem Jahrzehnt furchtbare Auswirkungen auf die Bevölkerung im Nordosten Nigerias gehabt. Der Konflikt hat zu einer humanitären Krise geführt, die Millionen von Menschen zu Binnenvertriebenen gemacht hat. Alle Konfliktparteien haben Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere Menschenrechtsverletzungen begangen, die besonders Frauen, Kinder und ältere Menschen betrafen.
*Namen zum Schutz der Menschen geändert.