Der Amnesty-Bericht mit dem Titel «Death Came To Our Home’: War Crimes and Civilian Suffering In Sudan» dokumentiert, wie vorsätzliche und wahllose Angriffe der Konfliktparteien massenhaft zivile Opfer fordern. Auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen, gezielte Angriffe auf zivile Objekte wie Krankenhäuser und Kirchen sowie grossflächige Plünderungen werden aufgezeigt.
Manche der dokumentierten Menschenrechtsverstösse sind als Kriegsverbrechen zu betrachten, so z. B. gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Angriffe auf humanitäre Infrastruktur, Brandschatzung sowie Vergewaltigungen und andere Formen von sexualisierter Gewalt. Der Amnesty-Bericht konzentriert sich vornehmlich auf Khartum und West-Darfur.
«Überall im Sudan erlebt die Zivilbevölkerung tagtäglich unvorstellbare Gräuel.» Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
«Überall im Sudan erlebt die Zivilbevölkerung tagtäglich unvorstellbare Gräuel», sagte Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International. «Menschen werden in ihrem Zuhause oder bei der verzweifelten Suche nach Nahrung, Wasser oder Medikamenten getötet. Sie geraten ins Kreuzfeuer, während sie zu fliehen versuchen, und werden bei gezielten Angriffen beschossen. Zahlreiche Frauen und Mädchen, manche erst zwölf Jahre alt, sind von Angehörigen beider Konfliktparteien vergewaltigt und anderen Formen sexualisierter Gewalt unterworfen worden. Die Menschen sind nirgendwo sicher. Die RSF und die sudanesische Armee sowie ihre jeweils verbündeten Gruppen müssen damit aufhören, die Zivilbevölkerung ins Visier zu nehmen. Sie müssen sichere Fluchtwege für alle Schutzsuchenden bereitstellen. Es müssen dringend Massnahmen ergriffen werden, um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für Opfer und Überlebende zu gewährleisten.»
Seit dem 15. April 2023 kämpfen die sudanesische Armee (unter der Führung des sudanesischen Staatsratsvorsitzenden General Abdel Fattah al-Burhan) und die paramilitärische RSF (unter der Führung von General Mohamed Hamdan Dagalo, allgemein bekannt als Hemedti) um die Kontrolle des Sudan. In Anbetracht des Ausmasses der Kämpfe und der Organisation beider Seiten ist die Situation als nicht-internationaler bewaffneter Konflikt im Sinne der Genfer Konventionen einzustufen. Als solche unterliegen die Kämpfe zwischen den Parteien dem humanitären Völkerrecht, das den Schutz von Zivilist*innen und anderen Nichtkombattanten in bewaffneten Konflikten zum Ziel hat, sowie den internationalen Menschenrechtsnormen, die weiterhin Anwendung finden. Bestimmte schwere Verstösse gegen diese Regeln stellen Kriegsverbrechen dar, für die einzelne Soldat*innen und Befehlshaber*innen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.
Angriffe auf Zivilpersonen
Frauen, Männer und Kinder geraten regelmässig ins Kreuzfeuer, da beide Seiten Angriffen auf dichtbesiedelte zivile Wohngebiete vornehmen, häufig unter Einsatz von explosiven Waffen mit flächendeckender Reichweite. Zahlreiche Zivilpersonen sagten Amnesty International, dass sie an Orten, an denen sie Schutz gesucht hatten, verletzt und ihre Verwandten getötet wurden. Meist gaben Überlebende und andere Zeug*innen an, dass Angehörige der RSF für die gezielten Angriffe verantwortlich waren. Am 6. Juni wurden in West-Darfur bei wiederholten Angriffen mit bodengestützten Projektilen Dutzende Zivilpersonen verletzt und getötet, die in und nahe den Frauenschlafsälen der Universität von Al-Dschunaina Schutz vor den Kämpfen gesucht hatten.
Frauen, Männer und Kinder geraten regelmässig ins Kreuzfeuer, da beide Seiten Angriffen auf dichtbesiedelte zivile Wohngebiete vornehmen.
Am 13. Mai verschafften sich RSF-Mitglieder Zutritt zu dem koptisch-orthodoxen Kirchenkomplex Mar Girgis im Stadtteil Bahri in Khartum. Mehrere Augenzeug*innen gaben an, dass die Eindringlinge fünf Geistliche erschossen und Geld sowie ein goldenes Kreuz stahlen. Am 14. Mai wurden in einer medizinischen Rettungsstation (Markaz Inqadh al-Tibbi) im Stadtteil Jamarik in Al-Dschunaina 14 Personen getötet, darunter Dr. Adam Zakaria Is’haq, ein 38-jähriger Arzt und Menschenrechtsverteidiger. Zwei Kolleg*innen des getöteten Arztes sagten Amnesty International, dass die 14 Personen von bewaffneten arabischen Milizionären erschossen worden seien.
Ethnisch motivierte Angriffe und sexualisierte Gewalt
Aufgrund der zunehmenden Spannungen in West-Darfur sind viele Angehörige der ethnischen Gemeinschaft der Masalit in den Osten des Tschad geflohen. Menschen, die aus Al-Dschunaina geflohen waren, berichteten Amnesty International, dass die Stadt von schwerbewaffneten arabischen Milizen angegriffen worden sei, mit der Unterstützung von RSF-Mitgliedern.
Am 28. Mai wurden in der Ortschaft Misterei südwestlich von Al-Dschunaina Dutzende Zivilpersonen getötet, als es zu Zusammenstössen zwischen der RSF und ihren verbündeten Milizen auf der einen und bewaffneten Masalit-Gruppen auf der anderen Seite kam. Von Anwohner*innen erfuhr Amnesty International, dass sie allein an diesem Tag 58 Zivilpersonen begraben hätten. Eine Familie hatte den Verlust von fünf Brüdern zu beklagen, die bei sich zuhause erschossen wurden.
Angehörige der Konfliktparteien verübten Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt gegen zahlreiche Frauen und Mädchen, von denen manche erst zwölf Jahre alt waren.
Angehörige der Konfliktparteien verübten Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt gegen zahlreiche Frauen und Mädchen, von denen manche erst zwölf Jahre alt waren. In einigen Fällen wurden Frauen und Mädchen tagelang unter Bedingungen festgehalten, die Sexsklaverei gleichkommen. In den meisten von Amnesty International dokumentierten Fällen gaben die Überlebenden an, die Verantwortlichen seien Angehörige der RSF oder verbündeter arabischer Milizen gewesen. Vergewaltigung, Sexsklaverei und andere Formen sexualisierter Gewalt, die im Rahmen eines bewaffneten Konflikts begangen werden, gelten als Kriegsverbrechen.
Im ganzen Land sind zahlreiche medizinische und humanitäre Einrichtungen beschädigt oder zerstört worden. Die Zivilbevölkerung verlor dadurch den Zugang zu Nahrungsmitteln bzw. Medikamenten, was die bereits verhängnisvolle Lage noch verschärfte. Die meisten dokumentierten Fälle von Plünderung gingen von RSF-Mitgliedern aus. Vorsätzliche Angriffe auf Angehörige oder Objekte humanitärer Organisationen sowie auf Gesundheitseinrichtungen gelten als Kriegsverbrechen.
Landesweites Waffenembargo gefordert
Amnesty International fordert den Uno-Sicherheitsrat auf, das derzeitige Waffenembargo gegen Darfur rasch auf den gesamten Sudan auszuweiten und dafür zu sorgen, dass es auch durchgesetzt wird. «Die internationale Gemeinschaft muss das bestehende Waffenembargo auf den gesamten Sudan ausweiten und seine Durchsetzung sicherstellen. Der Uno-Menschenrechtsrat sollte gemäßss den Forderungen der Zwischenstaatlichen Entwicklungsbehörde IGAD einen unabhängigen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus für den Sudan einrichten, um Nachweise für Menschenrechtsverstösse zu sammeln und zu bewahren», sagte Agnès Callamard. «Zudem sollte die internationale Gemeinschaft dem Sudan erheblich mehr humanitäre Unterstützung zukommen lassen. Die Nachbarstaaten müssen ihre Grenzen für schutzsuchende Zivilpersonen öffnen.»
Hintergrund und Methodik
Amnesty International sprach für den Bericht mit 181 Personen, vornehmlich im Osten des Tschad. Die Gespräche fanden im Juni 2023 mittels sicherer Telefonverbindungen statt. Die Organisation wertete zudem eine grosse Menge audiovisuelles Material aus, das auf mögliche Menschenrechtsverstösse hinwies, und analysierte Satellitenaufnahmen, um bestimmte Vorfälle zu verifizieren.
Am 21. Juni 2023 teilte Amnesty International der sudanesischen Armee und der RSF ihre Erkenntnisse schriftlich mit und bat um Informationen bezüglich spezifischer Vorwürfe, die in dem Bericht erhoben werden. In ihren Antwortschreiben am 12. bzw. 14. Juli gaben sowohl die Armee als auch die RSF an, sich an das Völkerrecht zu halten, und argumentierten, dass es die jeweils andere Partei sei, die Verstösse begehe. Das Militär teilte mit, eine Abteilung eingerichtet zu haben, die sicherstellen soll, dass die Zivilbevölkerung bei Waffeneinsätzen nicht ins Kreuzfeuer gerät.
Die RSF stritt alle Vorwürfe sexualisierter Gewalt ab und sagte, es seien Ausschüsse gebildet worden, um alle Vorwürfe von Fehlverhalten zu untersuchen. Die RSF stritt auch ab, an den «Ereignissen» in West-Darfur (u. a. in Misterei) beteiligt gewesen zu sein, und sagte, dass «die meisten» arabischen Milizen Verbindungen zur Armee hätten. Aussagen von Zeug*innen sowie andere Belege weisen durchgehend darauf hin, dass RSF-Mitglieder in West-Darfur schwere Menschenrechtsverstösse begehen, manchmal in Zusammenarbeit mit arabischen Milizen.