Diese Frau musste mit ihrem Baby vor den Angriffen der Regierung auf ihr Dorf in Leer County, Südsudan, fliehen. © Amnesty International (Weitere Bilder durch Klicken auf Bild)
Diese Frau musste mit ihrem Baby vor den Angriffen der Regierung auf ihr Dorf in Leer County, Südsudan, fliehen. © Amnesty International (Weitere Bilder durch Klicken auf Bild)

Südsudan Neue Gräueltaten an Zivilbevölkerung

Medienmitteilung 18. August 2018, London/Bern – Medienkontakt
Ein neuer Bericht von Amnesty International verurteilt die jüngste Militäroffensive im Südsudan, bei der Zivilpersonen getötet, Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt und Dörfer geplündert und zerstört wurden. Der brutale Angriff sei zum Teil der Tatsache geschuldet, dass die Behörden nichts unternommen haben, um mutmassliche Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen bzw. ihres Amtes zu entheben.

Der Amnesty-Bericht mit dem Titel «'Anything that was breathing was killed’: War crimes in Leer and Mayendit, South Sudan» basiert auf den persönlichen Angaben von etwa 100 Zivilpersonen, die von Ende April bis Anfang Juli 2018 vor Angriffen der Regierungstruppen und alliierten Jugendmilizen im Bundesstaat Unity fliehen mussten.

Galerie mit Bildern der Geflüchteten aus Leer und Mayendit

«Ein ausschlaggebender Faktor für diese brutale Offensive war die Tatsache, dass Personen, die bereits in der Vergangenheit für Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in der Region verantwortlich waren, nie zur Rechenschaft gezogen wurden», so Joan Nyanyuki, Regionaldirektorin für Ostafrika Amnesty International.

«Die Landkreise Leer und Mayendit haben schon einmal schlimme Gewalt erfahren, und trotzdem lässt die südsudanesische Regierung zu, dass die Verantwortlichen weiterhin Gräueltaten begehen können. Die Folge ist eine Katastrophe für die Zivilbevölkerung.»

Jagd auf Menschen

Im Bundesstaat Unity werden seit Beginn des Konflikts im Südsudan vor fast fünf Jahren immer wieder schonungslose Gewalttaten verübt. Die jüngste Welle der Gewalt brach am 21. April dieses Jahres aus und hielt bis Anfang Juli an – eine Woche nach Vereinbarung eines Waffenstillstands am 27. Juni.

Zahlreiche Frauen und Männer sprachen von einer unvorstellbaren Brutalität.

Zahlreiche Frauen und Männer sprachen mit Amnesty International über die unvorstellbare Brutalität der Offensive in den von der Opposition kontrollierten Landkreisen Mayendit und Leer. Ihren Angaben zufolge wurden Zivilpersonen erschossen, lebendig verbrannt, an Bäumen aufgehängt oder mit Panzerfahrzeugen überfahren. 

Angehörige der Streitkräfte und der Milizen setzten Amphibienfahrzeuge ein, um Menschen zu verfolgen, die in nahegelegene Sumpfgebiete flohen. Überlebende beschrieben, wie Gruppen von fünf oder mehr Militärangehörigen die Sümpfe nach Menschen absuchten und dabei häufig wahllos in das Schilf schossen.

Nyalony, eine ältere Frau, berichtete Amnesty International über die Tötung ihres Mannes und zweier weiterer Männer durch die Streitkräfte:

 «Als sie uns frühmorgens angriffen und aus dem Schlaf rissen, rannten mein Mann und ich zusammen zu den Sümpfen. Später am Vormittag, als die Kämpfe vorbei waren, kamen die Soldaten in den Sumpf, um nach Leuten zu suchen, und feuerten Schüsse in unsere Richtung ab. Mein Mann wurde von einer Kugel getroffen und schrie auf. Aber er war noch am Leben. Dann nahmen ihn die Soldaten gefangen und erschossen ihn. Er war unbewaffnet und kein Kämpfer; er war nur ein Bauer.»

Alte und Kinder bei lebendigem Leibe verbrannt

Diejenigen, die nicht in der Lage waren zu fliehen, wurden oftmals an Ort und Stelle getötet. Hierzu zählen insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Mehrere Überlebende beschrieben, wie ihre älteren Verwandten oder Nachbarn in ihren tukuls – traditionellen Häusern – bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. In einem Fall wurde einem Mann, der über 90 Jahre alt war, mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten.

Die 20-jährige Nyaweke berichtete Amnesty International, wie Militärangehörige in der Ortschaft Thonyoor im Landkreis Leer ihren Vater erschossen und dann mehrere Kinder brutal ermordeten:

«Sieben Männer [Soldaten] ergriffen die Kinder ein und steckten sie in ein tukul. Dann zündeten sie das tukul an. Ich konnte die Schreie hören. Es waren vier Jungen. Einer von ihnen versuchte, nach draussen zu fliehen, und die Soldaten hielten die Tür zu. Es gab auch noch fünf Jungen, die sie herumschwangen und gegen den Baum schlugen. Sie waren zwei [oder] drei Jahre alt. Sie wollen insbesondere die Jungen nicht am Leben lassen, weil sie wissen, dass aus ihnen einmal Kämpfer werden.»

Andere Überlebende beschrieben ähnlich entsetzliche Vorfälle, zum Beispiel in der Ortschaft Rukway in Leer, wo ein älteres Ehepaar und deren beiden Enkelkinder in einem Haus bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Als die Tochter des Ehepaares mit ihrem Baby nach draussen rannte, wurde sie von einem Soldaten erschossen, der dann das Baby mit Fusstritten tötete.

«Sie standen Schlange, um uns zu vergewaltigen»

Überlebende berichteten Amnesty International zudem, dass Regierungstruppen und verbündete Kräfte zahlreiche Zivilpersonen – insbesondere Frauen und Mädchen – verschleppten und manchmal wochenlang festhielten. Die Entführer wandten systematisch sexualisierte Gewalt gegen sie an. Eine Frau sagte: «Die Dinka standen Schlange, um uns zu vergewaltigen.»

Die Entführer wandten systematisch sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Jungen an.

Viele Frauen und Mädchen wurden von Gruppen von Männern vergewaltigt und einige von ihnen trugen schwere Verletzungen davon. Wer sich wehrte, wurde getötet.

Laut Angaben einer Überlebenden wurde ein achtjähriges Mädchen Opfer einer Gruppenvergewaltigung, und eine weitere Frau beobachtete die Vergewaltigung eines 15-jährigen Jungen.

Ein 60-jähriger Mann beschrieb, wie er seine 13-jährige Nichte vorfand, nachdem sie von fünf Männern vergewaltigt worden war:

«Die Tochter meines Bruders wurde vergewaltigt und war dem Tod nahe. Als wir sie nach der Vergewaltigung fanden, weinte sie und blutete... sie konnte sich nicht verstecken... sie sagte mir, dass sie von fünf Männern vergewaltigt wurde. Wir konnten sie nicht tragen und sie konnte nicht laufen.»

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen berichtete, innerhalb von 48 Stunden in einem einzigen Dorf 21 Überlebende sexualisierter Gewalt behandelt zu haben.

Darüber hinaus mussten viele der verschleppten Frauen und Mädchen Zwangsarbeit leisten, zum Beispiel geplünderte Gegenstände über weite Strecken transportieren und für ihre Entführer kochen und putzen. Einige der entführten Frauen und Männer wurden in Metallcontainern festgehalten und geschlagen und anderweitig misshandelt.  

Spur der Verwüstung

Regierungstruppen und verbündete Milizen hinterliessen nach ihren Angriffen in Leer und Mayendit eine Spur der Plünderung und Verwüstung, was offenbar ein bewusster Versuch ist, die Zivilbevölkerung von der Rückkehr abzuhalten. So steckten sie systematisch die Häuser von Zivilpersonen in Brand, plünderten oder verbrannten Lebensmittelvorräte und stahlen Vieh und Wertsachen.

Viele Überlebende kehrten einige Wochen oder Monate nach ihrer Flucht nach Hause zurück und fanden dort nur Zerstörung vor. Sie berichteten insbesondere über die gezielte Vernichtung von Lebensmittelvorräten – über verbrannte Ernten, gestohlenes oder getötetes Vieh und sogar entwurzelte Obstbäume.

Lebensmittel wurden gezielt vernichtet – verheerend für die Bevölkerung, die sich gerade von einer Hungersnot erholte.

Diese Lebensmittelvernichtung ist für die Zivilbevölkerung von Leer und Mayendit besonders verheerend, da man sich dort gerade erst von einer Hungersnot erholt hat, die im Februar 2017 ausgerufen worden war – die erste neu deklarierte Hungersnot weltweit seit 2011.

Straflosigkeit führt zu Kreislauf der Gewalt

Vertreterinnen und Vertreter von Amnesty International sind bereits 2016 in den Bundesstaat Unity gereist, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, die während der damaligen Militäroffensive im Süden des Bundesstaates begangen wurden, so auch im Landkreis Leer.

Im Zuge dieser Recherchen identifizierte die Organisation vier Personen, die im Verdacht stehen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, und forderte den südsudanesischen Militärchef auf, Untersuchungen einzuleiten. Amnesty International erhielt darauf keine Antwort. Neue Berichte der Vereinten Nationen deuten darauf hin, dass einige dieser Personen möglicherweise auch im Zuge der jüngsten Militäroffensive 2018 an Gräueltaten beteiligt waren.

«Wären die südsudanesischen Behörden 2016 aktiv geworden, hätte diese neue Welle der Gewalt möglicherweise vermieden werden können.» Joanne Mariner, Beraterin für Krisenreaktion bei Amnesty International.

«Man kann die grausame Realität unmöglich ignorieren: Wären die südsudanesischen Behörden 2016 auf unsere Warnung hin aktiv geworden, hätte diese neue Welle der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Leer und Mayendit möglicherweise vermieden werden können», so Joanne Mariner, Beraterin für Krisenreaktion bei Amnesty International.

«Dieser Kreislauf der Gewalt kann nur durchbrochen werden, indem die Straflosigkeit beendet wird, die südsudanesische Kämpfer auf allen Seiten derzeit geniessen. Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Zivilbevölkerung geschützt wird und dass diejenigen, die für entsetzliche Verbrechen verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.»

Amnesty International fordert die südsudanesische Regierung auf, allen Menschenrechtsverstössen Einhalt zu gebieten und umgehend den bereits 2015 beschlossenen sogenannten hybriden Gerichtshof  einzurichten. Darüber hinaus appelliert Amnesty an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, das im Juli angenommene Waffenembargo gegen den Südsudan endlich durchzusetzen.