Proteste, Repression und Militarisierung
Gründe für die massenhaften Proteste
Staatliche Reaktionen auf die Proteste: Repression statt Dialog
Kampf für Gerechtigkeit und gegen Straflosigkeit
MenschenrechtsverteidigerInnen
Rechte von Frauen und Mädchen
Sexuelle und reproduktive Rechte
Rechte indigener Bevölkerungsgruppen
Gewalt gegen Indigene
Rechte auf Land und eine gesunde Umwelt
Klimakrise
Menschen auf der Flucht
Mehrere Länder wurden 2019 von Massendemonstrationen erschüttert. Die Menschen gingen auf die Strasse, um Rechenschaftspflicht und die Achtung ihrer Menschenrechte zu fordern. Von wenigen Ausnahmen abgesehen reagierten die Regierungen auf die Proteste mit Repressionen und exzessiver Gewaltanwendung, um auf diese Weise die Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu unterdrücken. Anstatt sich um einen Dialog zu bemühen und auf die Sorgen der Menschen einzugehen, zogen die Behörden es vor, bei der polizeilichen Überwachung der Demonstrationen Gewalt anzuwenden. In einigen Fällen setzten sie auch auf eine verstärkte Militarisierung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Mindestens 210 Menschen starben 2019 infolge von Gewaltanwendung bei Demonstrationen.
Amerika blieb für MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen weiterhin die gefährlichste Region weltweit. 2019 wurden 208 Personen getötet, weil sie die Menschenrechte verteidigten, viele weitere wurden schikaniert, kriminalisiert und vertrieben. In einigen Ländern drohten JournalistInnen nach wie vor Schikanen, willkürliche Inhaftierungen und aussergerichtliche Hinrichtungen. So wurden in Mexiko im Laufe des Jahres mindestens zehn JournalistInnen aufgrund ihrer Arbeit getötet.
Vor allem MenschenrechtsverteidigerInnen und VertreterInnen indigener Bevölkerungsgruppen, die sich für Landrechte und den Erhalt der Umwelt einsetzten, waren Gewalt und Schikanen ausgesetzt. Bei Entwicklungsvorhaben und Projekten der Rohstoffindustrie, die weitreichende Auswirkungen auf das Leben der davon betroffenen Menschen hatten, wurden die Rechte der indigenen Gemeinschaften auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zur Nutzung ihrer angestammten Gebiete von den meisten Regierungen nicht respektiert und garantiert.
Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen war auf dem gesamten Kontinent weiterhin die Regel. So beendete die guatemaltekische Regierung 2019 die Tätigkeit der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala, die zu den innovativsten Gremien gehört hatte, was die Bekämpfung von Straflosigkeit betraf.
Zu den positiven Entwicklungen im Jahr 2019 zählte, dass auf dem gesamten Kontinent Frauenbewegungen an Präsenz und Stärke gewannen. Dennoch stellte geschlechtsspezifische Gewalt weiterhin ein grosses Problem dar. Für Menschenrechtsverteidigerinnen, Sexarbeiterinnen, Migrantinnen, Flüchtlingsfrauen, Frauen mit indigenen und afrikanischen Wurzeln sowie lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Frauen und andere war das Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt und Folter besonders hoch, weil sie in mehrfacher Form diskriminiert wurden. Im November 2019 veröffentlichte die Beobachtungsstelle für Geschlechtergerechtigkeit der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) aktuelle Informationen über Femizide (geschlechtsspezifische Tötungen von Frauen), die auf offiziellen Zahlen aus 16 lateinamerikanischen und neun karibischen Staaten beruhten. Demnach wurden 2018 mindestens 3500 Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet. Es war davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl weit höher lag, da zehn Länder lediglich Daten über Frauen zur Verfügung gestellt hatten, die von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet worden waren.
Auf dem amerikanischen Kontinent verliessen Millionen Menschen 2019 ihre Herkunftsländer, um andernorts in Sicherheit leben zu können. Aufgrund der anhaltenden Menschenrechtskrise in Venezuela hatten am Jahresende 2019 insgesamt fast 4,8 Mio. Menschen das Land verlassen. Mit Ausnahme Syriens waren aus keinem anderen Land der Welt mehr Menschen geflohen. Die meisten der Flüchtlinge lebten in den Nachbarländern Venezuelas. Einige lateinamerikanische Länder ergriffen zwar Ad-hoc-Massnahmen, um geflüchteten Menschen einen legalen Aufenthalt zu ermöglichen, gleichzeitig erliessen sie aber auch unnötige und rechtswidrige Einreisebeschränkungen, die Asylsuchende gefährdeten.
Menschen aus Honduras, Guatemala und El Salvador machten sich weiterhin auf den Weg in die USA, um der in ihren Heimatländern vorherrschenden allgegenwärtigen Gewalt zu entkommen. Bei den für Einwanderung zuständigen US-Gerichten stauten sich weiterhin die Anträge auf Aufenthaltsgenehmigungen von Menschen aus Kuba, Nicaragua und Venezuela, deren Zahl in den vergangenen Jahren stark angestiegen war. Die US-Regierung attackierte und untergrub weiterhin das Asylrecht durch politische Massnahmen, die Asylsuchende davon abhalten sollten, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren, und verstiess damit gegen ihre internationalen Verpflichtungen. Die mexikanische Regierung entsandte Truppen an die Grenze zu den USA, was stark an ähnliche Aktionen der USA in den vergangenen Jahren erinnerte. Um drohende Handelszölle abzuwenden, schloss die mexikanische Regierung ein Abkommen mit den USA, in dem sie sich bereit erklärte, aus den USA abgeschobene Asylsuchende, deren Anhörung noch nicht erfolgt war, aufzunehmen und zu beherbergen. In Mittelamerika hatten mindestens 70'000 Personen, die aufgrund der anhaltenden Menschenrechtskrise in Nicaragua aus dem Land geflohen waren, in Costa Rica Zuflucht gefunden. Der Zugang zu Asylverfahren und grundlegenden Sozialleistungen war dort jedoch weiterhin schwierig.
Proteste, Repression und Militarisierung
2019 kam es in zahlreichen Ländern des amerikanischen Kontinents zu Massenprotesten. In Ländern wie beispielsweise Bolivien, Chile, Ecuador, Haiti, Honduras, Kolumbien, Nicaragua und Venezuela, gingen insbesondere junge Leute, Menschen aus einkommensschwachen Familien und Frauen auf die Strasse. Bis auf wenige Ausnahmen verliefen die Proteste friedlich. Es wurde 2019 aber auch deutlich, dass die Staaten unfähig waren, angemessen auf die Unzufriedenheit der Menschen und deren Forderungen nach Respektierung ihrer Rechte zu reagieren. Stattdessen griffen sie auf Repressionen, exzessive Gewaltanwendung, einschliesslich vorsätzlich tödlicher Gewalt, und andere Menschenrechtsverletzungen zurück.
Gründe für die massenhaften Proteste
Bei den vielfältigen und vor allem von jungen Menschen geprägten Massendemonstrationen, die 2019 in vielen Ländern des Kontinents stattfanden, wurden Massnahmen zur Durchsetzung von Frauenrechten, zur Eindämmung der Klimakrise und zur Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) gefordert. Vielerorts gab es auch regierungskritische Massenproteste, auf denen Forderungen erhoben wurden, die von der Beendigung der Korruption über einen gleichberechtigteren Zugang zu Bildung, einen angemessenen Lebensstandard und bessere Gesundheitsfürsorge bis hin zum Wahlrecht reichten.
In Ländern wie Chile, Ecuador, Haiti, Honduras und Kolumbien wurden die Proteste durch politische und wirtschaftliche Massnahmen ausgelöst, die die Ausübung wirtschaftlicher und politischer Rechte untergraben und die Ungleichheit verstärken würden. In Bolivien führten hauptsächlich Vorwürfe des Wahlbetrugs bei den Präsidentschaftswahlen zu Protesten. In Venezuela forderten die Protestierenden angesichts der anhaltenden humanitären Krise in ihrem Land weiterhin die Respektierung ihrer politischen Rechte, Zugang zur Justiz und zu wirtschaftlichen und sozialen Rechten. In Nicaragua verlangten die Demonstrierenden ein Ende der fortwährenden Repression, Gerechtigkeit für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und die Freilassung von Inhaftierten, die lediglich ihr legitimes Recht auf eine abweichende politische Meinung wahrgenommen hatten.
Auf dem gesamten Kontinent war eine weitverbreitete Enttäuschung über Regierungen und politische Eliten des gesamten politischen Spektrums zu beobachten, die dazu führte, dass sich die politische Polarisierung verstärkte. Die Menschen protestierten, weil sie den Eindruck hatten, dass ihre Bedürfnisse und Forderungen von ihren politischen VertreterInnen aufgrund von Korruption zunehmend ausser Acht gelassen wurden. Zudem fühlten sie sich aus den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, die häufig zu politischen Massnahmen führten, die arme und einkommensschwache Personen, Frauen und Mädchen, Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen und junge Leute unverhältnismässig stark benachteiligten.
Die Unzufriedenheit resultierte auch aus der Tatsache, dass Lateinamerika und die Karibik nach Einschätzung der UN nach wie vor die Region mit der stärksten Ungleichheit und dem grössten Ausmass an Gewalt weltweit war. Im Jahr 2019 nahm die Armut weiter zu; nach Einschätzung von CEPAL betrug der Anteil der in Armut lebenden Menschen an der Gesamtbevölkerung 31 Prozent. Die Ungleichheit ging zwar weiterhin zurück, jedoch nur in einem geringen Ausmass, und es gab so gut wie kein Wirtschaftswachstum (0,1 % nach Angaben von CEPAL). Vor diesem Hintergrund war der Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Rechten wie Bildung, Gesundheit und Wohnen extrem ungleich. Obwohl die staatlichen Sozialausgaben in den meisten Ländern leicht anstiegen, reichten sie bei Weitem nicht an das heran, was notwendig gewesen wäre, um die in der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung festgelegten Ziele zu erreichen.
Staatliche Reaktionen auf die Proteste: Repression statt Dialog
Die weite Verbreitung der Proteste in zahlreichen Ländern des amerikanischen Kontinents, ihre Vielfalt und die massive Beteiligung der Bevölkerung an den Demonstrationen überraschten viele Regierungen und forderten ihre Fähigkeit heraus, mit ihren BürgerInnen in einen politischen Dialog zu treten. Die meisten Regierungen reagierten auf die Proteste mit unnötiger, exzessiver und in einigen Fällen vorsätzlich tödlicher Gewaltanwendung. Sie riefen den Notstand oder den Ausnahmezustand aus und bedrohten dadurch die Rechte der Menschen auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die gewaltsamen Reaktionen verstärkten wiederum die Frustration der Bevölkerung und führten dazu, dass noch mehr Menschen auf die Strasse gingen.
In Venezuela nahmen angesichts der sich verschärfenden humanitären Notlage vom 21. bis 25. Januar 2019 Tausende an Kundgebungen teil und forderten einen Regierungswechsel. Mindestens 47 Menschen starben bei den Protesten, alle infolge von Schusswunden. Berichten zufolge wurden mindestens 39 Personen von Sicherheitskräften getötet oder von Akteuren, die im Einvernehmen mit den Sicherheitskräften handelten. Mindestens elf Protestierende sollen aussergerichtlich hingerichtet worden sein. Mehr als 900 Menschen wurden inhaftiert, darunter auch Minderjährige. Das repressive Vorgehen im Jahr 2019 schloss nahtlos an die Repression an, unter der die Zivilbevölkerung in Venezuela seit 2014 leidet. Es gab daher Grund zu der Annahme, dass es sich bei den systematischen und weitverbreiteten Angriffen auf die Zivilbevölkerung um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln könnte.
In Haiti starben allein im Februar 41 Personen bei Protesten, 100 weitere erlitten Verletzungen. Nach UN-Angaben wurden zwischen Mitte September und Ende Oktober weitere 42 Personen getötet, in mindestens 19 Fällen sollen dafür Sicherheitskräfte verantwortlich gewesen sein. Die Polizei ging mehrfach mit exzessiver Gewalt gegen die regierungskritischen Demonstrationen im Oktober vor. In Honduras starben bei der Niederschlagung von Protesten zwischen April und Juni 2019 mindestens sechs Personen, die meisten wurden von Sicherheitskräften, einschliesslich Armeeangehörigen, erschossen, zahlreiche weitere wurden verletzt. In Ecuador ordnete die Regierung den Einsatz der Armee an, um auf die weitverbreiteten Proteste zu reagieren, nachdem sie im Oktober den Notstand ausgerufen hatte. Im Zusammenhang mit den Protesten wurden mindestens acht Personen getötet und 1340 verletzt.
In Bolivien rief die Regierung ebenfalls den Notstand aus, als es nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 zu Demonstrationen sowohl für als auch gegen den damaligen Präsidenten Evo Morales kam. Die Nationalpolizei soll mit übermässiger und unnötiger Gewalt gegen die Proteste vorgegangen sein. Nachdem die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im November 2019 ihren Untersuchungsbericht veröffentlicht hatte, der auf schwerwiegende Unregelmässigkeiten bei der Wahl hinwies, mehrten sich die Proteste und die Rücktrittsforderungen an den Präsidenten, teilweise sogar von seinen eigenen Gefolgsleuten. Nachdem die Streitkräfte Morales «vorgeschlagen» hatten, zur «Befriedung des Landes» zurückzutreten, gab er noch am selben Tag sein Amt auf. Zwei Tage nach seinem Rücktritt übernahm Jeanine Añez das Amt der Übergangspräsidentin an und erliess das Dekret 4078, das den Einsatz der Streitkräfte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vorsah und ihnen Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen zusicherte. Auf Grundlage dieses Dekrets führten die Nationalpolizei und die Streitkräfte gemeinsame Operationen durch, um die Demonstrationen zu überwachen. Berichten zufolge wurde dabei übermässige und unnötige Gewalt gegen Protestierende angewandt. Daneben gab es auch Meldungen über bewaffnete Demonstrierende. Bei den Protesten wurden bis Ende des Jahres mindestens 35 Menschen getötet. Am 27. November wurde das Dekret 4078 wieder aufgehoben, doch gab es weiterhin Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen.
In Chile begannen die Proteste Mitte Oktober. Dabei verübten die Sicherheitskräfte, vor allem die Streitkräfte und die Carabineros (Nationalpolizei), gross angelegte Angriffe auf Demonstrierende, bei denen vier Menschen getötet und weitere gefoltert und schwer verletzt wurden. Mehr als 350 Personen erlitten schwere Augenverletzungen. In Kolumbien, wo im November 2019 Proteste ausbrachen, starb ein 18-Jähriger an Kopfverletzungen, die durch «weniger tödliche Munition» verursacht worden waren.
Kampf für Gerechtigkeit und gegen Straflosigkeit
Straflosigkeit war nach wie vor die Norm und nicht die Ausnahme – sowohl in Bezug auf völkerrechtliche Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart als auch der Vergangenheit.
Nach mehreren gescheiterten Versuchen erreichte die Regierung Guatemalas ihr Ziel, die Arbeit der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit endgültig zu beenden, die bei der Untersuchung von grossen Korruptionsfällen und Menschenrechtsverletzungen beispiellose Erfolge erzielt hatte. Gleichzeitig beriet das Parlament über eine Amnestie für Personen, denen Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtliche Verbrechen während des internen bewaffneten Konflikts zur Last gelegt wurden. In El Salvador diskutierte das Parlament über den Entwurf eines «Sondergesetzes für eine Justiz der Aufarbeitung und Opferorientierung zur nationalen Versöhnung» (Ley especial de justicia transicional y restaurativa para la reconciliación nacional), das für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eine Bedrohung ihres Rechts auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung darstellte. In Nicaragua wurde ein Amnestiegesetz verabschiedet, das weithin kritisiert wurde, weil es als potenzielles Hindernis für die Ausübung der Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit galt und das Recht von Opfern auf einen wirksamen Rechtsbehelf gefährdete. In Kolumbien führten Massnahmen, die von Präsident Iván Duque vorangetrieben wurden, zu besorgniserregenden Verzögerungen und schweren Rückschlägen bei der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016.
Im September verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution zur Einrichtung einer unabhängigen internationalen Mission, die Fälle von aussergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwindenlassen, willkürlichen Inhaftierungen und Folter in Venezuela seit 2014 untersuchen soll. Die Ergebnisse werden für 2020 erwartet. In Mexiko setzte das Innenministerium eine Untersuchungskommission für Wahrheit und Gerechtigkeit ein, um den Fall der 43 Studierenden von Ayotzinapa aufzuklären, die 2014 dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren. Der Innenminister kündigte ausserdem an, dass auch die Interdisziplinäre Gruppe Unabhängiger Experten ihre Arbeit wieder aufnehmen und den Fall untersuchen werde. Trotz dieser positiven Schritte und einiger weiterer Veränderungen, die die derzeitige Regierung Mexikos angestossen hatte, zählte das Land aufgrund der weiterhin zahlreichen Fälle von Verschwindenlassen und anderen völkerrechtlichen Verbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen immer noch zu den Staaten des Kontinents mit dem höchsten Ausmass an Straflosigkeit.
MENSCHENRECHTSVERTEIDIGERINNEN
In ihrem Bericht über das Jahr 2019 stellte die Organisation Front Line Defenders fest, dass der amerikanische Kontinent die weltweit gefährlichste Region war, was die Verteidigung der Menschenrechte betraf. Kolumbien, Honduras, Mexiko und Brasilien waren zusammen mit den Philippinen die Länder, in denen die meisten MenschenrechtsverteidigerInnen ermordet wurden.
Amnesty International erhielt 2019 das gesamte Jahr über weiterhin beunruhigende Berichte darüber, dass sowohl Einzelpersonen als auch Gemeinschaften, die sich für die Förderung der Menschenrechte einsetzten, stigmatisiert, bedroht, vertrieben, kriminalisiert und getötet wurden. Personen, die sich für Landrechte und Umweltschutz engagierten, waren einem besonders hohen Risiko ausgesetzt; viele der getöteten MenschenrechtsverteidigerInnen waren in diesen Bereichen aktiv.
Die meisten Staaten hatten keine angemessenen Schutzpläne, die die strukturellen Ursachen der Gewalt berücksichtigten, der diese Gemeinschaften ausgesetzt waren. Staaten, in denen es spezielle Programme zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen gab, betrachteten den Schutz weiterhin in einer reaktiven Weise und aus einer Perspektive der materiellen Sicherheit, ohne zu versuchen, die strukturellen Ursachen der Gewalt gegen schutzbedürftige Personen und Gemeinschaften zu überwinden.
In den USA schikanierte die Regierung Trump Personen, die die Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen verteidigten, und setzte strafrechtliche Ermittlungen gegen sie in Gang. Im Dezember 2019 ordnete die Interamerikanische Menschenrechtskommission vorsorgliche Schutzmassnahmen für 17 nicaraguanische Menschenrechtsverteidigerinnen an, die im Zusammenhang mit der aktuellen Krise in ihrem Land Schikanen, Einschüchterungen, Morddrohungen und Angriffen ausgesetzt waren. In El Salvador wiesen lokale NGOs darauf hin, dass Angriffe auf MenschenrechtsverteidigerInnen nicht offiziell erfasst wurden, und dass das Parlament kein Gesetz zur Anerkennung und zum umfassenden Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen und zur Gewährleistung des Rechts auf Verteidigung der Menschenrechte verabschiedet hatte.
In mehreren Ländern wurden im Verlauf des Jahres positive Schritte zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen unternommen. Beispielsweise aktualisierte Mexiko die Bestimmungen seines nationalen Schutzprogramms für MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen, während Peru ein nationales Schutzprotokoll verabschiedete. In Paraguay wurde der Gemeinsame Aktionsplan aufgehoben, der dazu gedient hatte, MenschenrechtsverteidigerInnen und Gemeinschaften, die ihre Rechte verteidigten, von ihrem Land oder Territorium zu vertreiben.
Auch wurden in mehreren Ländern einzelne – wenn auch unzureichende – Schritte unternommen, um diejenigen vor Gericht zu bringen, die verdächtigt wurden, für Fälle von Angriffen auf MenschenrechtsverteidigerInnen strafrechtlich verantwortlich zu sein. In Honduras wurden sieben Personen wegen der Tötung der Umweltschützerin Bertha Cáceres verurteilt. Ihre Familie glaubt jedoch, dass volle Gerechtigkeit erst dann erreicht werden kann, wenn auch diejenigen vor Gericht gestellt werden, die den Mord in Auftrag gaben. In Mexiko wurden zwei Personen wegen des Verdachts festgenommen, den indigenen Umweltschützer Julián Carrillo getötet zu haben. BewohnerInnen seiner Gemeinde Colorados de la Virgen waren jedoch aufgrund des hohen Ausmasses an Gewalt und des Fehlens grundlegender staatlicher Leistungen weiterhin gefährdet. In Paraguay endete das jüngste unfaire Strafverfahren gegen Andrés Brizuela, der sich für Landrechte eingesetzt hatte, mit einem Vergleich.
Auch andere Gruppen wurden wegen ihrer Menschenrechtsarbeit ins Visier genommen, darunter solche, die die Rechte von LGBTI, MigrantInnen, Frauen und JournalistInnen verteidigten oder sich bei der Suche nach «verschwundenen» Personen engagierten. In Mexiko wies die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte nach der Ermordung von Óscar Cazorla, eines bekannten Verteidigers der Rechte von LGBTI, auf das bei der Untersuchung solcher Fälle übliche Muster der Straflosigkeit hin. In Brasilien erhielt die Frauenrechtsverteidigerin Debora Diniz Morddrohungen, weil sie das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche verteidigt hatte. In Mexiko wurden zwei VerteidigerInnen der Rechte von MigrantInnen festgenommen, die zuvor einer Verleumdungskampagne ausgesetzt gewesen waren. Hochrangige Behördenvertreter hatten fortgesetzt Anschuldigungen gegen sie erhoben, für die es keine glaubhaften Beweise gab.
RECHTE VON FRAUEN UND MÄDCHEN
Im Jahr 2019 verschafften sich Frauen und Mädchen in den Ländern Amerikas verstärkt Gehör, sowohl was ihre politische Beteiligung anging als auch im Kampf um ihre Rechte. In Lateinamerika und der Karibik wurden erhebliche Fortschritte erzielt, was die Geschlechtergerechtigkeit in Politik, Bildung und Erwerbstätigkeit betraf, allerdings war absehbar, dass es beim jetzigen Tempo der Veränderungen noch einige Jahrzehnte dauern würde, bis die volle Gleichstellung erreicht sein würde.
Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen war in der gesamten Region nach wie vor weit verbreitet. Obwohl alle Frauen gefährdet waren, bestand für einige von ihnen ein erhöhtes Risiko, so beispielsweise für Sexarbeiterinnen, Menschenrechtsverteidigerinnen sowie für Frauen indigener oder afrikanischer Herkunft. Frauen, die sich aktiv für ihre Rechte engagierten, waren in den sozialen Medien mit Gewalt konfrontiert.
In der Dominikanischen Republik vergewaltigte, verprügelte und demütigte die Polizei regelmässig Sexarbeiterinnen. Die Taten könnten Folter im Sinne des Internationalen Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gleichkommen. Auch in Kolumbien waren Menschenrechtsverteidigerinnen erhöhten Gefahren ausgesetzt, darunter sexualisierter Gewalt, Drohungen und Tötungen. In den USA wurden Berichten zufolge mehr als 500 indigene Frauen und Mädchen in 71 Städten getötet oder galten als vermisst, die tatsächlich Zahl dürfte noch weit höher liegen.
Obwohl die Geschlechtergerechtigkeit insbesondere durch junge Leute zunehmende Unterstützung erfuhr, unternahmen die Regierungen nicht genug, um gegen die tief verwurzelten diskriminierenden Einstellungen vorzugehen, die der Gewalt gegen Frauen zugrundlagen und sie aufrechterhielten. Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt stiessen auch im Justizwesen auf Hindernisse, die in Zusammenhang standen mit einer tief verwurzelten und klassenbasierten Voreingenommenheit, die zu Urteilen führte, die Frauen nach wie vor keine Gerechtigkeit verschafften. Darüber hinaus war die Straffreiheit für Täter, auch in Fällen von sexualisierter Gewalt und Femiziden, immer noch die Regel, und es gab nur sehr wenige Massnahmen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und den Opfern Hilfe zu gewähren und Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
Kennzeichnend für das Jahr 2019 waren zahlreiche Initiativen, die sich damit nicht weiter abfinden wollten. In vielen Ländern gab es feministische Mobilisierungen. Beispielsweise wurde das Lied «Un violador en tu camino» (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) der chilenischen Gruppe «Las Tesis”, das das Staatsversagen und die patriarchale Kultur als Hauptursachen der Gewalt gegen Frauen anprangert, schnell von Feministinnen in ganz Lateinamerika und in anderen Teilen der Welt übernommen und avancierte im Laufe des Jahres zu einer globalen Hymne der Frauenbewegung.
In Mexiko lösten im August 2019 mehrere Fälle sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen einen öffentlichen Aufschrei aus und führten zu Demonstrationen in Mexiko-Stadt und anderen Städten. Die Regierung von Mexiko-Stadt verunglimpfte die Proteste zunächst als Provokationen und kündigte an, wegen Schäden an Gebäuden strafrechtlich gegen Demonstrierende vorzugehen. Später änderte sie ihre Position, offenbar als Reaktion auf die öffentliche Empörung, und erklärte, sie respektiere das Recht auf Versammlungsfreiheit und werde Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen untersuchen.
Sexuelle und reproduktive Rechte
Daten zum Gesundheitswesen zeigten, dass extrem restriktive Gesetze bezüglich Schwangerschaftsabbruch die Zahl der Abbrüche nicht verringerten, sondern nur dazu führten, dass Schwangere gezwungen waren, unsichere Eingriffe vornehmen zu lassen. Dennoch lebten laut Angaben des Zentrums für Reproduktive Rechte 97 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter in Lateinamerika und der Karibik noch immer in Ländern mit restriktiven Gesetzen. Und selbst dort, wo Schwangerschaftsabbrüche legal waren, stiessen Frauen und Mädchen nach wie vor auf weitverbreitete Hindernisse, wenn sie einen Abbruch vornehmen lassen wollten.
Laut einer aktuellen Studie des Guttmacher-Instituts waren die Gesundheitssysteme in vielen Ländern der Region nicht in der Lage, die notwendige Nachsorge nach einem Schwangerschaftsabbruch zu leisten, obwohl sich die Regierungen verpflichtet hatten, diese Nachsorge im Rahmen hochwertiger Gesundheitsdienste bereitzustellen.
Angaben des UN-Bevölkerungsfonds zufolge wiesen Lateinamerika und die Karibik weltweit die zweithöchste Rate von Schwangerschaften bei Jugendlichen auf. Mindestens 3,4 Mio. Mädchen, die vor allem aus Haushalten mit geringem Einkommen stammten oder in ländlichen Gebieten lebten, hatten keinen Zugang zu modernen Verhütungsmethoden. Die jährlichen Kosten für eine derartige Verhütung würden laut Schätzungen des Guttmacher-Instituts pro Kopf ungefähr 0,38 US-Dollar betragen. Die Müttersterblichkeit zählte in Lateinamerika und der Karibik nach wie vor zu den häufigsten Todesursachen von Mädchen und jungen Frauen im Alter von 15-24 Jahren.
Das Risiko der Müttersterblichkeit war bei Mädchen unter 15 Jahren doppelt so hoch wie bei der Gesamtheit aller gebärfähigen Frauen, da sie physisch und psychisch noch nicht ausreichend auf die Mutterschaft vorbereitet waren. Lateinamerika und die Karibik waren weltweit die einzige Region, in der die Zahl der Mädchen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren, die gezwungen wurden, Schwangerschaften bis zur Geburt auszutragen, zunahm. Dabei handelte es sich häufig um Schwangerschaften, die das Ergebnis sexuellen Missbrauchs waren. So stellte eine aktuelle Studie von UN-Organisation zur Gleichstellung der Geschlechter und Förderung von Frauen (UN Women) fest, dass Schwangerschaften bei Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren in Paraguay um 62,6 Prozent zugenommen haben. In Argentinien wurde im Durchschnitt alle drei Stunden ein Kind geboren, dessen Mutter unter 15 Jahre alt war.
Rechte indigener Bevölkerungsgruppen
In Ländern wie Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Guatemala, Honduras, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Paraguay, Peru, den USA und Venezuela wurden die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen weiterhin verletzt.
Gewalt gegen Indigene
In Kolumbien, Guatemala, Brasilien, Mexiko, Honduras und anderen Ländern wurden VertreterInnen indigener Bevölkerungsgruppen nach wie vor bedroht, angegriffen und getötet, weil sie sich für Landrechte und den Erhalt der Umwelt einsetzten. In Paraguay kriminalisierten die Behörden Angehörige indigener Gemeinschaften weiterhin, indem sie rechtliche Schritte gegen sie einleiteten, um sie zu schikanieren. Es gab auch Berichte über gewaltsame Angriffe auf indigene Gemeinschaften, Einschüchterungen und Vertreibungen. In Ecuador herrschte weiterhin Besorgnis, da es keine angemessenen Massnahmen gab, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit indigener MenschenrechtsverteidigerInnen zu schützen und um zu gewährleisten, dass gegen sie gerichtete Bedrohungen und Angriffe wirksam untersucht wurden.
Indigene Frauen waren in erhöhtem Masse von Gewalt bedroht. So waren beispielsweise indigene Frauen in den USA und Kanada weiterhin überproportional von Vergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt betroffen.
Rechte auf Land und eine gesunde Umwelt
Die Regierungen des amerikanischen Kontinents missachteten weiterhin das Recht der indigenen Bevölkerung auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zu Entwicklungsvorhaben, von denen sie betroffen waren. In Peru führten neue Gesetze dazu, dass der Schutz der Rechte indigener Bevölkerungsgruppen bezüglich Land und Territorien geschwächt und ihr Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung untergraben wurde.
In Paraguay wurden konkrete und positive Schritte zur Umsetzung der Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen der indigenen Gemeinschaften der Sawhoyamaxa und Yakye Axa unternommen. Es gab jedoch auch den Vorwurf, dass bei einer Auseinandersetzung über Landtitel das Strafrechtssystem missbräuchlich gegen die indigenen Gemeinschaften der Ava Guaraní im Distrikt Itakyry eingesetzt werde. In Ecuador wartete die indigene Gemeinschaft der Sarayaku noch immer auf die vollständige Umsetzung des im Jahr 2008 vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gefällten Urteils, wonach die Gemeinschaft bei Projekten, die ihr Territorium betreffen, konsultiert werden muss. In Kolumbien wurden Zehntausende Menschen, hauptsächlich aus indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften, aufgrund von Kämpfen zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen vertrieben.
In Kanada trieben die Behörden den Bau des Wasserkraftwerks Site C in der Provinz British Columbia weiter voran, obwohl zwei betroffene indigene Bevölkerungsgruppen (First Nations) sich dagegen wehrten und ein Gerichtsprozess über Landrechte noch nicht abgeschlossen war. In Argentinien war das vor 13 Jahren verabschiedete Territoriale Notstandsgesetz (Nr. 26160), das die rechtliche Anerkennung der Landrechte indigener Bevölkerungsgruppen voranbringen sollte, noch immer nicht vollständig umgesetzt.
In allen Teilen des Kontinents beeinträchtigte die Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt das Recht der indigenen Bevölkerung auf eine gesunde Umwelt. In Peru wurden einige positive Massnahmen eingeleitet, so veröffentlichte das Gesundheitsministerium z. B. Leitlinien zur Behandlung von Personen, deren Gesundheit durch giftige Metalle angegriffen war. Die Regierung hatte jedoch noch keine effektiven Massnahmen ergriffen, um die Gesundheit Hunderter Indigener zu schützen, deren einzige Wasserquellen durch giftige Metalle verseucht waren. In Venezuela machten indigene Gemeinschaften weiterhin darauf aufmerksam, dass sich die Mineralgewinnung negativ auf ihre Siedlungsgebiete und die Umwelt auswirkte. Und in Kanada kam die Regierung ihrem Versprechen nicht nach, ein fachärztliches Zentrum für die Angehörigen der Grassy Narrows First Nation einzurichten, die seit Jahrzehnten darunter leiden, dass ihr angestammtes Land von Quecksilber verseucht ist.
Wirtschaftsunternehmen verletzten und gefährdeten weiterhin die Rechte der indigenen Bevölkerung. In Brasilien gerieten indigene und afro-brasilianische Gemeinschaften immer stärker unter Druck durch Personen, die illegal auf ihr angestammtes Land eindrangen und Teile davon beschlagnahmten, um dort Waldgebiete zu roden, Viehzucht zu betreiben oder andere kommerzielle Interessen zu verfolgen. Die Regierung reduzierte ihre Aufsichtsfunktion oder nahm sie überhaupt nicht wahr.
Im Jahr 2019 wurde jedoch eine bahnbrechende Einigung zwischen der kanadischen Bergbaugesellschaft Pan American Silver und Angehörigen der indigenen Bevölkerung in Guatemala in einem Rechtsstreit erreicht, der einen Schusswaffeneinsatz in der Silbermine Escobal im Jahr 2013 betraf. Der Vergleich ging einher mit einer Entschuldigung und der Übernahme der Verantwortung durch das Unternehmen. Dies war das erste Mal, dass ein kanadisches Bergbauunternehmen öffentlich eingestand, dass seine Aktivitäten im Ausland zu Menschenrechtsverstössen geführt haben.
Ähnliche Klagen waren in Kanada noch gegen das Unternehmen Hudson Minerals anhängig, dem vorgeworfen wurde, Angehörige der indigenen Gemeinschaft in der Nähe der Nickelmine Fenix in Guatemala angegriffen und getötet zu haben.
Da weltweit die Nachfrage nach Elektrofahrzeugen steigt, gibt es Befürchtungen, dass die Ausweitung des Lithium-Bergbaus in Südamerikas «Lithium-Dreieck” (Argentinien, Bolivien und Chile), wo 70 % der weltweiten Lithiumvorkommen vermutet werden, ohne ausreichende Garantien zum Schutz der Rechte der betroffenen indigenen Bevölkerung auf sauberes Wasser, eine gesunde Umwelt und die freie, vorherige und informierte Zustimmung der indigenen Bevölkerung erfolgen könnte.
Klimakrise
Auf dem gesamten Kontinent waren sozio-ökologische Konflikte weiterhin eine der Hauptursachen sozialer Unzufriedenheit. In vielen Ländern fanden hauptsächlich von jungen Leuten getragene Massenkundgebungen statt, auf denen Massnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise gefordert wurden.
Fortschritte wurden bei der Umsetzung des Regionalen Abkommens über den Zugang zu Information, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik (Escazú-Abkommen) erzielt. Dabei handelt es sich um einen bahnbrechenden regionalen Vertrag über Umweltrechte. Bis Ende 2019 hatten 22 Länder das Abkommen unterzeichnet, und fünf hatten es ratifiziert. Elf Ratifizierungen sind erforderlich, damit es in Kraft tritt.
In Boliviens Chiquitano-Wald und im brasilianischen Amazonasgebiet kam es zu einer Serie verheerender Waldbrände, die eine Umwelt- und Menschenrechtskrise verursachten. In Bolivien brachen die Brände aus, nachdem der Präsident das Präsidialdekret 3973 vom 10. Juli erlassen hatte, das «die Rodung von Land für landwirtschaftliche Zwecke auf privaten und kommunalen Grundstücken” und «die kontrollierte Brandrodung in Übereinstimmung mit den geltenden Richtlinien» in den Provinzen Santa Cruz und Beni erlaubt. Die bolivianische Regierung liess nicht untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen den Waldbränden und dem Dekret gab. Es wurde auch nicht aufgehoben und war Ende des Jahres noch immer in Kraft.
Offiziellen Angaben zufolge wurden in Brasilien in acht Monaten 435'000 Hektar Wald vernichtet. Die Brände im Amazonasgebiet gefährdeten die Lebensgrundlage und die Gesundheit der ländlichen und städtischen Bevölkerung in dem Gebiet, insbesondere die indigener Bevölkerungsgruppen und afro-brasilianischer Quilombola-Gemeinschaften. Die Zahl der Waldbrände stieg 2019 um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Satellitenaufnahmen zeigten insgesamt 89'178 Feuer. Ende des Jahres war keine konsequente Politik erkennbar, um der Abholzung und den Waldbränden Einhalt zu gebieten und die davon betroffenen Bevölkerungsgruppen zu schützen und zu entschädigen. Auch gab es keine unabhängigen Untersuchungen und umfassenden Massnahmen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die Brände im Amazonasgebiet im Jahr 2019 verantwortlich waren.
Menschen auf der Flucht
Die Regierungen auf dem amerikanischen Kontinent errichteten weiterhin rechtswidrig Hindernisse für die Bewegungsfreiheit von MigrantInnen, Asylsuchenden und Flüchtlingen. Es gab 2019 mindestens drei grosse Flüchtlingsbewegungen: NicaraguanerInnen flohen nach Costa Rica, VenezolanerInnen machten sich hauptsächlich auf den Weg in südamerikanische Länder, und Menschen aus den Ländern des sogenannten Nördlichen Dreiecks (El Salvador, Guatemala und Honduras) durchquerten Mexiko, um in die USA zu gelangen.
Mindestens 70'000 Staatsangehörige Nicaraguas, die seit 2018 vor der Menschenrechtskrise in ihrem Land geflohen waren, lebten im benachbarten Costa Rica. Das Land hinderte NicaraguanerInnen zwar nicht an der Einreise, gewährte ihnen aber keinen uneingeschränkten Zugang zu Asylverfahren und schränkte damit auch die Inanspruchnahme anderer Rechte und grundlegender Sozialleistungen ein.
Venezuelas beispiellose humanitäre Notlage hatte fast 4,8 Mio. Frauen, Männer und Kinder zur Flucht aus ihrem Land gezwungen. Einige Regierungen in der Region fanden Regelungen, die VenezolanerInnen einen legalen Aufenthalt ermöglichten, während andere, wie Peru, neue Einreisebestimmungen erliessen, die faktisch bedeuteten, dass VenezolanerInnen, die internationalen Schutz suchten, vor verschlossenen Türen standen. Die meisten Staaten hatten keine effizienten und gut funktionierenden Asylsysteme, und einige reagierten auf die Notlage, indem sie neue Hürden im Asylverfahren einführten.
Menschen aus El Salvador, Guatemala und Honduras flohen weiterhin aus ihren Ländern aufgrund von allgegenwärtiger Gewalt, Drohungen, Erpressung, Zwangsrekrutierung durch kriminelle Banden sowie sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Diskriminierung, Drangsalierung und Gewalt in diesen Ländern veranlasste auch viele LGBTI, Schutz in anderen Ländern zu suchen. Laut Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) gab es Ende 2019 weltweit ungefähr 387'000 Flüchtlinge und Asylsuchende aus El Salvador, Honduras und Guatemala. Überdies gab es Tausende Menschen, die innerhalb der Länder vertrieben oder dorthin zurückgeschickt worden waren, hauptsächlich aus den USA und Mexiko. Viele waren unter Verletzung des Völkerrechts zurückgeschickt worden und liefen Gefahr, bei ihrer Rückkehr Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen zu werden.
In den USA trieb die Regierung von Präsident Trump Massnahmen voran, die das Ziel hatten, die Zahl der Asylsuchenden zu begrenzen, die Mexiko durchquerten, um in die USA zu gelangen. Die Massnahmen umfassten u. a. rechtswidrige Zurückweisungen an der Grenze, die Umsetzung des «Bleib in Mexiko»-Programms, auf dessen Grundlage Zehntausende Asylsuchende nach Mexiko zurückgeschickt wurden, um dort auf die Entscheidung über ihre Asylanträge in den USA zu warten, sowie den Abschluss von »Asyl-Kooperationsabkommen” mit El Salvador, Guatemala und Honduras (auch als «sichere Drittstaaten-Abkommen» bekannt), um die Menschen zu zwingen, Asyl in diesen Ländern anstatt in den USA zu beantragen.
Die US-Regierung hielt Asylsuchende unter Verletzung des Völkerrechts und internationaler Standards weiterhin willkürlich und unbegrenzt fest. Einige Asylsuchende befanden sich mehrere Jahre lang in Hafteinrichtungen ohne Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung. Die Trump-Regierung setzte auch ihre widerrechtliche Praxis der Inhaftierung von Kindern fort. Auf Druck der USA entsandte die mexikanische Regierung unter Verletzung ihrer internationalen Verpflichtungen 6.000 Soldaten, die Teil der neugegründeten Nationalgarde waren, an die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Mexiko hielt ausserdem weiterhin Minderjährige in Haftzentren für MigrantInnen fest, die Berichten zufolge überbelegt waren und in denen es keine medizinische Grundversorgung gab. Mindestens drei Menschen starben in der Obhut der mexikanischen Einwanderungsbehörden, darunter ein Kind.
Die von mehreren Regierungen in der Region verfolgte Politik und die Äusserungen hochrangiger Staatsbediensteter im Hinblick auf die beispiellose Flüchtlingskrise zeigten, dass im Laufe des Jahres aufeinander abgestimmte Versuche unternommen wurden, den Menschenrechtsschutz in einigen Bereichen wieder rückgängig zu machen und die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen. Zugleich gab es aber auch beeindruckende Beispiele von Solidarität und gemeinschaftlichem Widerstand gegen die Versuche, die hart erkämpften Menschenrechte zu untergraben.
An vorderster Front standen dabei junge Männer und Frauen, die eine Zukunft forderten, in der die Menschenwürde geachtet wird und die erforderlichen Massnahmen ergriffen werden, um ein Leben in einer intakten Umwelt zu garantieren, Frauen und Mädchen, die die Kräfte anprangerten, die Diskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt untermauern und verfestigen, LGBTI, die sich gegen negative Stereotype und Drangsalierungen wandten, Familien und Gemeinschaften, die trotz mächtiger Gegner standhaft Gerechtigkeit einforderten, sowie indigene Bevölkerungsgruppen und Umweltschützer, die grosse Gefahren auf sich nahmen, um auf den Klimanotstand aufmerksam zu machen und ihn zu stoppen. Die Vielfalt und Widerstandskraft der zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die die Achtung der Menschenrechte forderten, schufen einige der eindrucksvollsten Bilder des Jahres auf den Strassen der Städte und Dörfer des amerikanischen Kontinents, die als Inspiration dienen können für kommende Kämpfe.