Amnesty International will mit der neuen Kampagne Brazil for Everyone («Brasilien für alle») auf die menschenrechtlich bedenklichen Entwicklungen im Land aufmerksam machen. Jurema Werneck, Direktorin von Amnesty International in Brasilien, erklärt:
«Wir haben bereits vor der Wahl im Oktober 2018 davor gewarnt, dass die Aussagen von Jair Bolsonaro eine grosse Gefahr für die Menschenrechte in Brasilien darstellen. Seitdem haben wir haben die Regierung aufmerksam beobachtet und müssen leider feststellen, dass unsere Vorbehalte berechtigt waren.«
«Die Regierung hat unter Bolsonaro damit begonnen, Massnahmen zu ergreifen, die das Recht auf Leben und Gesundheit bedrohen, in die Freiheitsrechte eingreifen und die Landrechte von Brasilianerinnen und Brasilianern verletzen, die einfach nur in Würde und ohne Angst leben möchten, egal ob in der Stadt oder auf dem Land. Es handelt sich um Massnahmen, die potenziell Millionen von Menschen betreffen könnten. Unserer Ansicht nach darf es in einem fairen Land keine soziale Ausgrenzung geben. Ein faires Brasilien ist ein Brasilien, das für alle da ist.»
Amnesty International beurteilt folgende Massnahmen der Bolsonaro-Regierung als besorgniserregend:
- Die Lockerung von Gesetzen zum Besitz und Tragen von Schusswaffen: Dies könnte dazu führen, dass mehr Menschen durch Schusswaffen getötet werden.
- Die neue landesweite Drogenpolitik: Bestrafung steht an erster Stelle, das Recht auf Gesundheit wird verletzt.
- Die negativen Auswirkungen politischer Entscheidungen der Bolsonaro-Administration auf die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen und afro-brasilianischer Gemeinschaften (Quilombola).
- Der Versuch, die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Brasilien zu behindern.
- Zahlreiche Bestimmungen des Gesetzespakets zur Kriminalitätsbekämpfung: zum Beispiel die Lockerung der Definition von Notwehr, um den Einsatz von Gewalt und Schusswaffen seitens der Polizei zu rechtfertigen.
- Massnahmen, die gegen die Rechte auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verstossen. Hierbei geht es insbesondere um die Rechte von Personen, die unter der Militärregierung Opfer von völkerrechtlichen Verbrechen durch den Staat wurden.
- Angriffe auf die Unabhängigkeit und Autonomie des interamerikanischen Menschenrechtssystems.
- Die menschenrechtsfeindliche Rhetorik des Präsidenten und anderer hochrangiger Staatsbediensteter. Diese Rhetorik könnte Menschenrechtsverletzungen legitimieren.
Am 21. Mai haben VertreterInnen von Amnesty International in Brasília einen Brief an Präsident Bolsonaro und andere Regierungsvertreter übergeben, in dem diese Bedenken formuliert wurden und Empfehlungen für die Gewährleistung, Förderung und den Schutz von Menschenrechten in Brasilien gemacht werden. Teil der Delegation sind die Direktorin von Amnesty Brasilien Jurema Werneck, die Amnesty-Direktorin für die Amerikas, Erika Guevara-Rosas, sowie der Direktor von Amnesty Spanien, Esteban Beltrán.
«Einige der Massnahmen, die diese Regierung in den vergangenen fünf Monaten ergriffen oder vorgeschlagen hat, sind äusserst besorgniserregend», sagt Jurema Werneck. «Sie könnten dazu führen, dass mehr Menschen durch Schusswaffen getötet werden. Sie legitimieren eine Strategie für öffentliche Sicherheit, die auf dem Einsatz tödlicher Gewalt beruht. Sie verstossen gegen die Rechte indigener und afro-brasilianischer Bevölkerungsgruppen. Sie setzen in der Drogenpolitik auf unwirksame Praktiken, die auf Bestrafung ausgerichtet sind. Sie könnten zur ungerechtfertigten Überwachung von NGOs führen. Sie berauben die Überlebenden der Militärregierung ihrer Rechte auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die unverblümt menschenrechtsfeindliche Rhetorik, die all diese Massnahmen begleitet, verstärkt die Bedenken noch, die Amnesty International angesichts der Menschenrechtslage in Brasilien hat.»
Erika Guevera-Rosas dazu: «Die Lage in beiden Amerikas ist heikel. Viele Regierungen schützen die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht, sondern vertreten stattdessen politische Strategien, die verheerende Auswirkungen auf die Menschen haben – zum Beispiel die Menschen aus Mittelamerika, die in den Vereinigten Staaten Schutz suchen. Länder wie Venezuela und Nicaragua scheuen nicht davor zurück, zur Gewalt anzustacheln und politische Gegnerinnen und Gegner zu verfolgen. In den vergangenen Monaten haben wir diese regressive Entwicklung auch in Brasilien beobachten können, wo Präsident Bolsonaro sehr bedenkliche Aussagen gemacht hat.»
Bereits 2017 hatte Amnesty International aufgezeigt, dass Brasilien eines der gefährlichsten Länder für Menschenrechtsverteidiger auf dem amerikanischen Kontinent ist. Laut Erkenntnissen der NGO Global Witness ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Welt für Aktivistinnen und Aktivisten im Bereich Landrechte und Umweltschutz.
«Präsident Jair Bolsonaro muss dringend seinen Kurs ändern und mit den internationalen Verträgen, die Brasilien ratifiziert hat, konformgehen. Er muss gewährleisten, dass zivilgesellschaftlich engagierte Personen und Organisationen frei agieren können, und sich von seiner menschenrechtsfeindlichen Rhetorik distanzieren, die Menschenrechtsverletzungen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen legitimiert», fordert Erika Guevera-Rosas.
Esteban Beltrán, Direktor von Amnesty Spanien, zeigt sich besorgt über die Einschränkung des Handlungsspielraums für die Zivilgesellschaft weltweit, da in vielen Ländern Gesetze verabschiedet werden, mit denen die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen kontrolliert oder behindert werden soll.
«Leider versuchen immer mehr Länder, Nichtregierungsorganisationen zu kontrollieren und die Arbeit von Organisationen zu behindern, die eine wichtige Rolle dabei spielen, Verfehlungen, Straftaten und Menschenrechtsverletzungen aufzudecken, die von staatlicher Seite begangen werden. Wir betrachten mit Sorge die Bemühungen der gegenwärtigen brasilianischen Regierung, NGOs zu überwachen und betrachten sie als Schritte in eben diese Richtung», so Esteban Beltrán. «Die internationale Gemeinschaft wird weiterhin ein wachsames Auge darauf haben, ob Bolsonaro und seine Regierung ihrer Pflicht zum Schutz und zur Gewährleistung der Menschenrechte nachkommen.»
Besonders der Kontext einer unverblümt menschenrechtsfeindlichen Rhetorik macht Erika Guevara-Rosas Sorgen: «In jüngster Zeit gibt es immer mehr politische Führungskräfte, die mit einer unverhohlen menschenrechtsfeindlichen Agenda und Sprache Wahlkampf betreiben. In Brasilien ist man nun dabei, diese giftigen Worte in die Tat umzusetzen. Wir fordern Bolsonaro auf, entschlossene Massnahmen zu ergreifen, um die Menschenrechte in ganz Brasilien zu schützen und zu gewährleisten. Zudem muss er dafür sorgen, dass Menschenrechtsaktivistinnen und –Aktivisten ohne Angst vor Vergeltungsmassnahmen tätig sein können.»