Amnesty International besuchte kürzlich drei verschiedene indigene Gebiete im Norden Brasiliens, in denen Eindringlinge mit der Beschlagnahmung von Land und/oder Abholzung von Bäumen begonnen oder diesbezügliche Aktivitäten verstärkt hatten. Indigene SprecherInnen berichteten der Organisation, wegen der Verteidigung ihres angestammten Landes Morddrohungen erhalten zu haben. Ausserdem befürchten sie, dass es in der Trockenzeit (Mai/Juni bis Oktober/November) zu neuen Vorfällen dieser Art kommen könnte, da die Rodung und Brandrodung dann durch den leichteren Zugang zum Wald vereinfacht würde.
«In Brasilien sind die indigene Bevölkerung und ihr Land einer grossen Gefahr ausgesetzt, und die Situation wird in der Trockenzeit bald unhaltbar werden», sagt Richard Pearshouse, leitender Krisen- und Umweltexperte von Amnesty International.
«Die Regierung muss indigene Gemeinschaften, die ihr Land verteidigen, schützen, oder es wird zu einem Blutvergiessen kommen. »
Im April 2019 befragte Amnesty International 23 Indigene aus drei Gebieten im Norden Brasiliens – Karipuna und Uru-Eu-Wau-Wau im Bundesstaat Rondônia sowie Arara im Bundesstaat Pará. Ausserdem sprach Amnesty International mit zwölf Personen, die über Eingriffe in indigenen Gebieten gut informiert sind, darunter RegierungsvertreterInnen, Staatsanwälte und Angehörige von Nichtregierungsorganisationen.
Angehörigen von Nichtregierungsorganisationen und Behörden zufolge handelt es sich bei den Eindringlingen häufig um einheimische Personen, die von örtlichen Landwirten und Politikern ermutigt und unterstützt werden, Grundstücke zu besetzen und/oder das Holz zu verkaufen.
In einigen Gebieten setzen indigene Gemeinschaften Patrouillen ein, um ihr Land zu überwachen und vor diesen Eingriffen zu schützen. Da die Eindringlinge häufig bewaffnet sind, ist das Risiko gewalttätiger Zusammenstösse mit indigenen Gruppen gross.
An allen drei Orten haben Indigenensprecher wiederholt die jüngsten illegalen Landnahmen und Abholzungen bei Regierungsbehörden angeprangert. Darauf haben die Regierungsbehörden bislang jedoch nur begrenzt reagiert, und die illegalen Landnahmen und Abholzungen setzten sich fort.
Auf das illegale Eindringen von etwa 40 Personen in das Gebiet der Uru-Eu-Wau-Wau im Januar 2019 folgte erst ein paar Tage später eine Überwachung des Gebiets durch die staatlichen Behörden. Dabei wurde eine Person festgenommen und später freigelassen. Im April 2019 kam es zu einem weit grösseren Vorfall dieser Art, bei dem Schätzungen zufolge mehreren hundert Personen illegal in das Gebiet der Uru-Eu-Wau-Wau eindrangen. Im Rahmen einer staatlichen Überwachungsmassnahme wurden eine Woche nach dem Vorfall zwei Personen festgenommen.
Nächtliche Schüsse
Indigene Gemeinschaften aus allen drei Gebieten berichteten Amnesty International über neue Wege, die illegale Eindringlinge kürzlich in den Wald in der Nähe ihrer Dörfer und Strassen geschlagen hätten. In einigen Gebieten, so führten sie weiter aus, seien häufig Geräusche von Traktoren und Kettensägen zu hören.
Eine 22-jährige Frau der Uru-Eu-Wau-Wau beschreibt, wie sie sich in den Tagen nach dem Eingriff im Januar 2019 fühlte:
«Als ich von den Eindringlingen erfuhr, hatte ich Angst, denn das war sehr nah bei unserem Dorf. So nah waren sie noch nie. Ich hatte Angst, dass sie herkommen würden. Ich konnte nicht mehr schlafen. Mehrere Nächte lang waren nachts Schüsse zu hören. Ich hatte Angst. Ich habe die Kinder ins Bett gebracht, aber selbst konnte ich nicht schlafen.»
Die ExpertInnen von Amnesty International fanden Spuren von Strassen und Wegen innerhalb der indigenen Gebiete, die zuvor von Eindringlingen benutzt wurden, sowie Bilder und Videos von Markierungen zur Ausweisung von Parzellen und Wegen, und einen Traktor, der mit geschlagenem Holz beladen war.
Ein Karipuna-Sprecher berichtete Amnesty International über Befürchtungen, dass es in der Trockenzeit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte:
«Sie [die illegalen Eindringlinge] haben die Botschaft hinterlassen, dass wir [die IndigenensprecherInnen] verschwinden würden, sollten wir ihnen in die Quere kommen ... Wenn die Regierung das Gebiet nicht schützt, könnte es zwischen Eindringlingen und Indigenen zu einer Tragödie kommen. Während der Trockenzeit werden die Überfälle noch weiter zunehmen, da die Behörden keinerlei Massnahmen ergriffen haben.»
Die Reaktion der Regierung auf diese illegalen Landnahmen und Abholzungen ist nach wie vor unzureichend. Um die indigenen Gebiete zu überwachen, müssen sich verschiedene staatliche Stellen miteinander koordinieren. Die brasilianische Indigenenbehörde FUNAI verfügt nicht über polizeiliche Befugnisse und ist auf die Unterstützung anderer Institutionen wie dem brasilianischen Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen (IBAMA) und der Bundespolizei (Polícia Federal) angewiesen. Aus sachkundigen Kreisen erfuhr Amnesty International, dass die Überwachungsmassnahmen in den letzten Monaten aufgrund von Budgetbeschränkungen reduziert wurden.
Die indigene Bevölkerung brachte gegenüber Amnesty International ihre Frustration darüber zum Ausdruck, dass nur wenige Eindringlinge zur Rechenschaft gezogen werden, während Fachleute betonten, wie wichtig es sei, gegen jene Personen zu ermitteln, die die illegalen Landnahmen und Abholzungen unterstützen und finanzieren.
Zwischen Januar und April 2019 hat die Bundesanwaltschaft (Ministério Público Federal) mindestens vier Briefe an die Ministerien für Justiz und für Frauen, Familie und Menschenrechte – das seit Januar 2019 für die Indigenenbehörde FUNAI zuständige Ministerium – geschickt, in denen sie eine Verschlechterung der Sicherheitslage in den Gebieten der Karipuna und Uru-Eu-Wau-Wau beschreibt und vor einem Konfliktrisiko warnt. Die Bundesanwaltschaft forderte die sofortige Unterstützung der Nationalgarde für öffentliche Sicherheit (FNSP) , während die Behörden dabei sind, ein langfristiges Schutzkonzept für die Gebiete zu entwickeln.
Bislang haben sich jedoch weder das Justizministerium noch das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte mit der FNSP abgestimmt, um die Gebiete der Karipuna und der Uru-Eu-Wau-Wau zu schützen. Auch das langfristige Schutzkonzept existiert noch nicht.
«Solange sich FUNAI und andere Behörden nicht in den Kampf gegen illegale Landnahmen und Abholzungen einschalten, sind gewalttätige Zusammenstösse zwischen indigenen Gemeinschaften und Eindringlingen vorprogrammiert», meint Richard Pearshouse.
«Die Regierung sollte unverzüglich ihr Engagement für den Schutz der indigenen Gebiete bekräftigen und sicherstellen, dass diese respektiert werden.»
Abholzung in indigenen Gebieten nimmt zu
Illegale Landnahmen und Abholzungen sind in der Regenzeit (Oktober/November bis Mai/Juni) meist seltener als in der Trockenzeit (Mai/Juni bis Oktober/November). Die NGO Imazon hat den Verlust von 12 Quadratkilometern Wald in indigenen Gebieten des Amazonas in den ersten drei Monaten dieses Jahres gemeldet. Dies bedeutet eine Zunahme von 100 % gegenüber dem Vergleichszeitraum 2018.
Studien zeigen, dass die Demarkation indigener Gebiete dort, wo angestammtes Land indigener Völker Primärwald ist, Schutz vor Entwaldung bieten kann. Die Erhaltung der Primärwälder ist ein entscheidender Faktor im Kampf gegen den Klimawandel, denn wenn Wälder gerodet oder brandgerodet werden, wird gespeicherter Kohlenstoff hauptsächlich als Kohlendioxid in die Atmosphäre abgegeben.
«Der Schutz der Menschenrechte der indigenen Bevölkerung ist essenziell, um eine weitere Abholzung im Amazonasgebiet zu verhindern. Die internationale Gemeinschaft sollte die indigenen Gemeinschaften sorgfältig im Auge behalten und unterstützen, denn sie kämpfen an vorderster Front für den Schutz der wertvollsten Wälder der Welt», so Richard Pearshouse.