AMNESTY: Weil Sie den bedrohten Frauen von Guatemala helfen und sich für deren Rechte stark machen, leben Sie und Ihre Familie in ständiger Bedrohung und können das Haus nicht ohne bewaffnete Polizeieskorte verlassen. Wie leben Sie ihren Alltag?
Norma Cruz: Das hat zwei fundamental schwierige Aspekte: Einerseits muss ich aufpassen, dass ich gefühlsmässig nicht zusammenbreche. Ich habe sehr viel mit Brutalität und mit dem Tod zu tun und sehe die Körper der geschundenen und getöteten Frauen, und ich spüre die Trauer der Angehörigen. In solchen Momenten darf ich mich nicht gehen lassen. Denn ich muss handeln können, muss offen und präsent sein, muss koordinieren, meine Equipe leiten, damit Gerechtigkeit entstehen kann. Andererseits haben ich und meine Kinder die Freiheit verloren. Meine Tochter arbeitet auch in der Stiftung. Sie und ihre kleinen Töchter müssen 24 Stunden lang rund um die Uhr von zwei bewaffneten Polizisten beschützt werden. Auch für meinen 19-jährigen Sohn war es sehr schwer, die Freiheit aufzugeben.
Wie lange hält dieser Zustand bereits an und wie reagiert die Öffentlichkeit?
Schon zweieinhalb Jahre. Die Leute meiden uns. Sie bekommen Angst, wenn wir im Laden einkaufen. weil wir mit soviel Sicherheitsbeamten auftreten. Wir haben ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, doch wegen des Sicherheitsrisikos mussten wir uns trennen. Irgendwie gewöhnt man sich daran, aber es ist kein Leben. Das ist sehr hart.
Nicht nur Sie und Ihre Familie, auch Ihre Organisation Fundación Sobrevivientes, die Stiftung der Überlebenden, ist ständig bedroht.
Ja, deshalb steht die Stiftung ebenfalls unter Polizeischutz. Die hilfesuchenden Frauen mussten sich zuerst an die Polizei gewöhnen, vor der man sich aber nicht zu fürchten braucht. Sie müssen beim Eintreten ihre Taschen kontrollieren lassen, denn wir bekamen Bombendrohungen. Im vergangenen Jahr hatten wir eine Antibombeneinheit im Haus, die nach einer Drohung alles auf den Kopf stellen mussten. Eigentlich ist es paradox: Wir sind gegen Waffen und Gewalt, aber wir müssen uns von Männern mit Waffen beschützen lassen.
Welcher Art sind Ihre Aktionen?
Wir machen Aktionen in den Strassen, zum Beispiel Hungerstreiks. Die Polizisten schützen uns dabei. Und sie müssen deshalb auch mit uns hungern (lacht). Das hat sie für die Anliegen der Frauen sensibilisiert, sie nachdenklich gemacht und verändert.
Wie viele Frauen und Mädchen werden in Guatemala ermordet?
Wir haben jährlich 46000 Denunziationen von Frauen, die sagen, dass sie Gewalt erlebt haben, 5000 von ihnen wegen Vergewaltigung. Guatemala hat 13 Millionen Einwohner, 50 Prozent davon sind Frauen. Zwischen 600 und 800 Frauen werden pro Jahr ermordet. Das sind aber bloss die Fälle, die angezeigt werden. Von 10 Frauen, die vergewaltigt werden, machen 3 eine Anzeige. Die Dunkelziffer liegt also bei 70 Prozent. Diese Zahlen übersteigen die Kapazität der staatlichen Sicherheitskräfte. Es hat 500 Untersuchungsbehörden auf nationaler Ebene. Wenn man sämtliche Ermordungen zusammenzählt, dann werden 6000 Menschen pro Jahr ermordet in Guatemala. Jeder Untersuchungsrichter hat ungefähr 100 Mordfälle, die er aufklären müsste. Die Straflosigkeit liegt gesamthaft bei 98 Prozent. Bei den Frauen bei 97 Prozent, weil unser Kampf immerhin den Rückgang um ein Prozent bewirkt hat.
Wie erklären Sie sich diese massive Gewalt gegen Frauen in Ihrem Land?
Es ist das Erbe des bewaffneten internen Konfliktes in Guatemala. Aus dem Kampf gegen die Opposition im kalten Krieg entstanden Institutionen, die sind bis heute noch da. Man geht wie eh und je repressiv gegen die Bevölkerung vor, anstatt sie zu beschützen. Über Jahrzehnte haben die Machthaber einen psychologischen Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt. Über Generationen hinweg wurden wir infiltriert, wie die Indigenen, wie die Frauen sind. Solche Bilder haben die internen Konflikte in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft geschürt. Während des Krieges wurden die Mütter einfach getötet, damit sie keine künftigen Guerilleros gebären können. All das zusammen erklärt die ständige Gewalt gegen Frauen. Das gab den Freipass dafür, dass man die Frauen umbringen darf. Das sitzt tief, wenn man dazu noch bedenkt, dass der Konflikt in Guatemala 36 Jahre lang gedauert hat. Die Bevölkerung lebte ständig in grosser Angst und wurde terrorisiert. Die Männer verbreiteten den Terror, indem sie keinerlei Respekt gegenüber den Frauen zeigten. Das machen die jungen Männer heute genau gleich. Auch 15 Jahre nach dem Krieg herrschen immer noch dieselben Wertvorstellungen über die Frauen. Frauen betrachtet man als ein Etwas ohne Wert und jene, die heute an der Macht sind, stört das nicht.
Wer sind diese Leute, die dafür verantwortlich sind?
Wir alle haben immer gewusst, dass die Armee hinter der Drogenmafia und hinter dem Waffen- und Menschenhandel steht. Als 1996 das Friedensabkommen in Kraft trat, haben diese Kreise dafür gesorgt, dass diese Verbrechensstrukturen erhalten bleiben. Dadurch hat der Staat aufgehört zu existieren.
Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat Ihr Engagement für die Frauenrechte?
Wenn wir zeigen, dass die Gewalt nicht als Normalität akzeptiert werden darf, sondern dass man ins Gefängnis gehört, wenn man eine Frau schlägt, sie vergewaltigt oder ermordet, dann bringen wir damit die ganze Gesellschaft durcheinander. Warum sollte plötzlich unter Strafe stehen, was immer schon normal war und geduldet wurde. So denken auch die, welche im Justizsystem sitzen und für Gerechtigkeit sorgen sollten. In Guatemala landet man im Gefängnis, wenn man eine Kuh stiehlt, nicht aber, wenn man eine Frau umbringt. Diese Mentalität zu ändern und dem Leben einer Frau einen Wert zu geben, das ist sehr schwierig.
Welche Möglichkeiten haben die Frauen in Guatemala, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass in der guatemaltekischen Gesellschaft etwas total schief läuft, das sie ständig in ihrer Würde und an Leib und Leben bedroht und verletzt?
Es gibt Frauen, die dieses Bewusstsein zu entwickeln beginnen und Gerechtigkeit fordern. Ein Grossteil von ihnen ist aber unwissend. Viele kommen zu uns, ohne Schutz und Gerechtigkeit zu fordern. Wir müssen die Frauen lehren, dass sie Menschen sind. Es ist fast so wie damals, als die spanischen Eroberer fragten, ob die Eingeborenen eine Seele hätten. Das passiert aber nicht bloss solchen, die arm oder auf den falschen Weg geraten sind. Es kommen auch reiche Frauen, Pfarrer, Leute mit Einfluss. Sie haben nie Nachrichten geschaut, denn von dieser Realität will man nicht wissen. Bis ihre eigenen Töchter umgebracht worden sind. Dann haben sie plötzlich gemerkt, dass das nicht nur den Armen sondern auch ihnen passieren kann. Das ist hart, aber nur so kann man Bewusstsein schaffen, denn es gibt kaum eine Familie in Guatemala, von der nicht jemand umgebracht worden ist.
Ändert sich auch in der Männerwelt etwas? Abgesehen von jenen Polizisten, die bei den Streiks mithungern müssen?
Einige Männer kennen jetzt wenigstens das Gesetz, aus Angst, dass sie ins Gefängnis müssen. Unser Erfolg ist, dass unsere Stiftung keinen einzigen Gerichtsfall verloren hat bisher. Wir möchten aber, dass das Justizsystem die Fälle ohne Druck von uns, sondern von sich aus vorwärtsbringt. Das ist uns bisher nicht gelungen. Mit unseren Fällen machen sie vorwärts, weil wir ziemlich renommiert sind. Es gibt viele Menschen, die von uns zum Gericht begleitet werden wollen, damit man sieht, dass hinter ihnen die Stiftung steht. Früher kamen immer nur die Mütter oder Schwestern. Aber heute stelle ich fest, dass oft auch die Väter oder Brüder zu uns kommen und an die Prozesse gehen, um Gerechtigkeit zu fordern. Früher war es allein Sache der Frau, nach Gerechtigkeit zu suchen. Die Väter haben sich mit Arbeit herausgeredet.
In der Fundación Sobrevivientes arbeiten 63 Leute, die Hälfte von ihnen sind Männer.
Darauf legen wir besonderen Wert. Denn die Gewalt an Frauen ist nicht bloss ein Problem unter den Frauen, sondern ein gesellschaftliches. Bei unseren Strassenaktionen unterstützen uns viele Männer. Wir schlafen jeweils in den Strassen und wenn die Polizei kommt, um uns zu beschützen, dann kommen auch viele Männer aus den Dörfern und bleiben bei uns.
Wie gehen die Demonstrationen vor sich?
Wir mobilisieren nicht im grossen Stil, wir machen keine eigentlichen Demonstrationen. Ich nehme ein Zelt und gehe auf die Plaza und ich allein sage, ich mache einen Streik. Ich informiere die Medien und dann kommen Leute. Ich merke plötzlich, dass ich nicht allein bin. Es kommen Frauen, Männer, die Botschafter und ParlamentarierInnen, die Magistraten, die Steuerverwalter, die ganze Welt! Es ist unglaublich! Wir halten ein Gästebuch hin und wir hatten schon 500 Leute pro Tag. Sie kommen mit Gitarren, Indigene, Mestizen, das hat eine starke Wirkung in der Bevölkerung und deshalb kommen auch die Medien.
Sie haben mit Ihren Aktionen einen ganz individuellen Weg gefunden, die Leute zu mobilisieren.
Wir könnten mit herkömmlichen Mitteln niemals so viele Leute organisieren und erreichen, dass sich so viele Frauen versammeln. Wir mussten innovativ sein und neue Formen finden. Wir versuchen auch unseren Geldgebern und Spendern zu sagen, dass wir diese Dynamik nicht planen können. Wir können nicht voraussagen, wann und wo wir welche Aktion durchführen. Und sogar die Leute beginnen zu fragen, wann machen Sie dieses Jahr wieder einen Hungerstreik? Die Leute wollen, dass ich das mache. Anstatt am Sonntag in ein Shoppingcenter zu gehen, kommen sie zu mir auf den Platz, um sich mit mir zu solidarisieren.
Das Symbol für Frauenmord ist ein rosarotes Kreuz. In der mexikanischen Stadt Ciudad Juarez an der Grenze zu den USA hat die Frauen-Kampagne von Amnesty International begonnen und diese Kreuze benützt. Sie verwenden sie auch.
Wir benützen diese Kreuze seit 2006 im Zusammenhang mit den Justizfällen unserer Stiftung. Wir haben mit sechs Kreuzen begonnen. Vier Jahre später hatten wir bereits 50. Die hinterbliebenen Familien geben uns ein Kleidungsstück ihrer ermordeten Frau. Das Kreuz stellen wir dann mit dem Kleidungsstück und mit einem Bild und der Geschichte der Ermordeten auf. Zuerst haben wir das in den Räumen der Stiftung gemacht und später draussen in der Öffentlichkeit. Im vergangenen Jahr haben wir die Aktion im Regierungspalast im Zentrum der Macht durchgeführt.
Wie war das möglich?
Alles ist möglich (lacht). Aber wir haben als Organisation eine gewisse Macht. Das haben wir erreicht. Wir wussten von Anfang an, dass wir eine renommierte Organisation werden müssen, die Einfluss hat. Es war immer meine Vision, dass wir nicht als arme Opfer gelten, sondern die Überlebenden sind. Daher der Name Sobrevivientes – die Überlebenden. Manchmal zittern mir die Beine. Es ist nicht leicht, wie eine Verrückte allein mit einem Zelt hinauszugehen und einen Hungerstreik zu beginnen.
Sie hatten auch schon mal das Parlament besetzt.
Vor zwei Jahren drangen wir zu viert ins Nationalparlament ein, um gegen Menschenhandel zu protestieren. Ich ging mit drei Müttern, die auf der Suche nach ihren vermissten Töchtern waren. Wir gingen direkt in den Kongress wo alle Parlamentarier sassen. Den anwesenden Medienleuten antworteten wir, dass wir das Parlament besetzt hätten und nicht wüssten, wann wir es wieder verlassen würden. Wir waren nur vier Frauen, auf der anderen Seite 158 Parlamentarier und unzählige Sicherheitsbeamte. Es war lächerlich. Der Parlamentspräsident forderte dann die Parlamentarier auf, uns anzuhören, weil wir sonst nicht mehr hinausgehen würden. Das hat funktioniert. Ich erzähle diese Dinge mit grosser Freude, aber im Moment selber brauche ich sehr viel Kraft und Mut, um das Schema zu durchbrechen. Doch das hilft uns und bringt uns viel Erfolg. Die Bevölkerung braucht diese neue Form des Kampfes. Wir müssen immer wach bleiben, damit die Gewalt gegen Frauen nicht weiter passiert. Auch wenn es in anderen Ländern nicht so viele Fälle wie hier in Guatemala gibt. Und sollte es nur einen einzigen Fall geben, dann muss uns das aufrütteln.