Die Versammlungsfreiheit und der faire Zugang zu Recht und Gerechtigkeit sind in Guatemala in Gefahr. © Johan Ordonez_AFP_Getty Images
Die Versammlungsfreiheit und der faire Zugang zu Recht und Gerechtigkeit sind in Guatemala in Gefahr. © Johan Ordonez_AFP_Getty Images

Guatemala Demontage des Rechtsstaates

9. Juli 2019
Die Regierung Guatemalas droht, die Anstrengungen zur Stärkung des Rechtsstaates der letzten Jahre zunichte zu machen. Der Kampf gegen die Straflosigkeit wird unterbunden.

Im Bericht «Última Oportunidad de Justicia» (auf Deutsch «Letzte Chance für die Gerechtigkeit») fasst Amnesty International die gravierenden Rückschritte im Bereich der Menschenrechte in Guatemala zusammen. Diese sind eine direkte Folge der Massnahmen, welche die Regierung, die Staatsanwaltschaft und der Kongress in den letzten Jahren ergriffen haben.

«Der Zugang zur Justiz wurde in den letzten Monaten enorm geschwächt und wird künftig kaum mehr gewährleistet werden können, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt werden kann. Schon jetzt bleiben zahlreiche Menschenrechtsverletzungen ungestraft. Die Gefahr, dass sich dieser Zustand in Zukunft verschlimmert, ist gross», sagt Lisa Salza, Länderkoordinatorin für Lateinamerika bei Amnesty Schweiz.

Fortschritte zunichte gemacht

Guatemala konnte im vergangenen Jahrzehnt durchaus Fortschritte im Kampf gegen die Straflosigkeit verzeichnen. 2007 nahm die Internationale Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) ihre Arbeit auf. Dieses unter der Schirmherrschaft der Uno ins Leben gerufene Organ sollte die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung krimineller Strukturen, die den Staat infiltrieren, unterstützen. Bis 2018 vermochte die CICIG über 100 Fälle aufzudecken. Parallel dazu verurteilten guatemaltekische Gerichte ab 2009 erstmals ehemalige – auch ranghohe − Angehörige des Militärs und der Polizei wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während des bewaffneten Konflikts stattgefunden hatten. Diese Urteile wurden als historisch gefeiert, da solches in der Geschichte des Landes zuvor unmöglich war.

Doch ab August 2017 begann die Regierung unter Jimmy Morales die Arbeit der CICIG zu behindern. Am 31. August 2018 kündigte der Präsident an, das Mandat der CICIG, welches am 3. September 2019 auslaufen wird, nicht zu verlängern. Angesichts dieser Situation hat die Staatsanwältin Consuelo Porras keine erkennbaren Massnahmen ergriffen, um das Weiterbestehen der Justizorgane, welche mit der CICIG zusammenarbeiten zu gewährleisten. Dies trifft insbesondere die Spezial-Anwaltschaft gegen die Straflosigkeit (FECI). Wird deren Arbeit nicht weitergeführt, werden die Ermittlungen in mindestens 70 Fällen eingestellt werden müssen.

Angesichts der desaströsen Lage der Rechtsstaatlichkeit in Zentralamerika, wäre ein Rückzug der Schweiz aus dieser Region verheerend.Lisa Salza, Länderkoordinatorin für Lateinamerika

Kongress torpediert mit Gesetzesvorlagen den Rechtsstaat

Gleichzeitig zirkulieren im Kongress verschiedene Gesetzesvorschläge, die den Rechtsstaat massiv bedrohen. Gesetzesvorschlag 5377 strebt an, die Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverbrechen während des internen bewaffneten Konflikts einzustellen. Gesetzesvorlage 5257 will die Versammlungsfreiheit beschneiden und so den Handlungsspielraum von Nichtregierungsorganisationen einschränken. 

Der von der CICIG angestossene Prozess trug zur Stärkung des Justizapparates, namentlich der Staatsanwaltschaft, bei. Ihr Vermächtnis im Kampf gegen die Straflosigkeit muss unbedingt geschützt werden. Amnesty International zeigt im Bericht auf, dass der Staat nicht im Stande oder nicht gewillt ist, die Unabhängigkeit der StaatsanwältInnen zu gewährleisten; Richter und Richterinnen, die sich mit Fällen von Korruption und schweren Menschenrechtsverletzungen befassen, werden eingeschüchtert, diffamiert oder erhalten disziplinarische Verfahren.

Das Vorzeigebeispiel der Region wird wieder zum Sorgenkind

Amnesty International ruft die guatemaltekische Regierung dazu auf, JustizbeamtInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen nicht weiter mit haltlosen Gerichtsverfahren zu schikanieren, und dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Rechtsstaat erhalten beziehungsweise neu geschaffen werden.

«In den vergangenen zehn Jahren machte Guatemala grosse Schritte vorwärts in der unabhängigen Rechtsprechung und mauserte sich zu einem Vorzeigebeispiel in der Region. Die Rückschritte, welche wir heute feststellen, wirft das Land an den Ausgangspunkt zurück. Wenn sich die Situation wie in den vergangenen zwei Jahren weiterentwickelt, wird sich Guatemala innert kürzester Zeit wieder in jenem Zustand befinden, der die Schaffung der CICIG notwendig machte», befürchtet ein Anwalt, der von Amnesty International für den vorliegenden Bericht befragt wurde.

«Die CICIG wurde gewissenermassen Opfer ihres eigenen Erfolgs: Dank des entschlossenen und furchtlosen Vorgehens ihres Vorsitzenden Iván Velásquez war sie auf gutem Weg, die korrupten Strukturen, die den Staat infiltrieren und den Rechtsstaat bedrohen, aufzudecken. Zahlreiche Angehörige der höheren Staatsorgane sahen sich dadurch bedroht und liessen den Präsidenten in seinem Angriff auf die CICIG gewähren oder unterstützten ihn sogar dabei. Gemeinsam mit den Avancen des Kongresses ist hier eine regelrechte Demontage des Rechtsstaates – oder was davon übriggeblieben ist − im Gange», so Lisa Salza. 

Rückzug der Schweiz aus Zentralamerika wäre verheerend

Die Schweiz engagiert sich seit mehreren Jahrzehnten mit Projekten zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit in Zentralamerika. Unter anderem unterstützt sie die CICIG seit deren Bestehen. Gemäss dem Bericht des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zur internationalen Zusammenarbeit (IZA) sollen die Menschenrechtsprogramme in Zentralamerika per 2024 eingestellt werden. Dies, obwohl selbiger Bericht feststellt, dass «Ungleichheiten und Gewalt in mehreren lateinamerikanischen Ländern nach wie vor stark ausgeprägt sind».

«Angesichts der desaströsen Lage der Rechtsstaatlichkeit in Guatemala sowie der soziopolitischen Krisen in Nicaragua und Honduras, wäre ein Rückzug aus Zentralamerika verheerend», sagt Lisa Salza. Im Rahmen des Vernehmlassungsverfahren zur IZA fordert Amnesty International, dass die Schweiz ihre erfolgreich auf- und ausgebaute Unterstützung zur Bekämpfung der Korruption und Straflosigkeit in Zentralamerika über das Jahr 2024 hinaus fortsetzt und entsprechende Mittel zur Verfügung stellt.