In den ersten 150 Tagen nach dem Erdbeben auf Haiti wurden 250 Vergewaltigungen gemeldet. © Michael Swan
In den ersten 150 Tagen nach dem Erdbeben auf Haiti wurden 250 Vergewaltigungen gemeldet. © Michael Swan

Haiti Sexuelle Gewalt nimmt zu

11. Januar 2011
Mädchen und Frauen in Haiti, die in einem der unzähligen Zeltlager leben, sind auch ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben nicht sicher. Amnesty International dokumentiert den Anstieg sexueller Gewalt in einem aktuellen Bericht und fordert verstärkte Massnahmen zum Schutz von Kindern und Frauen. Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung

«Frauen, die ohnedies mit dem Leben kämpfen, weil sie ihre Liebsten, ihre Wohnung und ihre Lebensgrundlage verloren haben, müssen nun der zusätzlichen Bedrohung durch sexuelle Gewalt ins Auge sehen», sagt Amnesty-Experte Gerardo Ducos.

Schon 2009 dokumentierte Amnesty International die weit verbreitete sexuelle Gewalt in dem verarmten Karibik-Staat. Wo es Anstrengungen der Regierung gab, machte das Beben sie zunichte. Polizeireviere und Krankenstationen wurden zerstört, die Verwaltung des Landes muss erst mühsam wieder aufgebaut werden, Opfer werden von der Polizei im Stich gelassen, Täter kommen ungestraft davon. Lokalen Aktivistinnen und Aktivisten wurden allein in den ersten 150 Tagen nach dem Beben 250 Vergewaltigungen in 15 unterschiedlichen Camps gemeldet.

«Damit sexuelle Gewalt nicht weiter um sich greift, muss die neue Regierung den Schutz von Mädchen und Frauen in den Lagern in den Mittelpunkt stellen. Bisher wurde das Problem sexueller Gewalt im Rahmen der Reaktion auf die umfassende humanitäre Krise weitgehend ignoriert», sagt Ducos.

Leben in Angst

Bei Anbruch der Dunkelheit, so schildern Vergewaltigungsopfer in dem Bericht «Aftershocks: Women speak out against sexual violence in Haiti's camps», ziehen bewaffnete Banden durch die vielen Zeltlager in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Süden Haitis. Sie bedrohen und vergewaltigen Kinder und Frauen. «In unserem Camp können wir nicht in Frieden leben; am Abend können wir unsere Zelte nicht verlassen. Immer wieder gibt es Schiessereien, Plünderungen… Wir haben Angst. Wir könnten jederzeit vergewaltigt werden», sagt Dina.

Suzie erzählt, wie eine Bande sie und ihre Familie mitten in der Nacht überfiel. Ihr und einer Freundin wurden die Augen verbunden, bevor die Männer sie vor den eigenen Kindern vergewaltigten. Suzie kann nicht sagen, wie viele es waren. «Als sie weg waren, habe ich nichts getan. Ich reagierte gar nicht. Vergewaltigungsopfer sollten ins Krankenhaus gehen, aber ich ging nicht, weil ich kein Geld hatte. Ich weiss nicht, wo es eine Klinik gibt, die Gewaltopfer behandelt», so Suzie. Das Erdbeben hat ihr nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Eltern, Ehemann und Geschwister genommen.

Stunde null

Kurz vor 17 Uhr Ortszeit bebte am 12. Januar 2010 für knapp eine Minute die Erde. Zehntausende Gebäude stürzten in Sekundenschnelle ein. Erst als die riesigen Staubwolken sich nach Tagen langsam verzogen hatten, offenbarte sich das ganze Ausmass der Katastrophe: Bis zu 300’000 Menschen kamen ums Leben, Millionen Menschen wurden obdachlos und mussten sich in den Trümmern ihrer Häuser oder in den überall wuchernden Zeltlagern ein provisorisches Dach über dem Kopf schaffen. Ein Jahr nach der Katastrophe ist das Provisorium zum Dauerzustand geworden.

«Der Ort, an dem wir wohnen, ist kein Ort zum Leben», schilderte eine Frau im Juni 2010. «Tagsüber kommen wir vor Hitze fast um, und in der Nacht können wir nicht raus, weil wir Angst haben, dass wir vergewaltigt werden. Ab acht Uhr früh ist es unter den Planen nicht mehr auszuhalten, die Hitze ist unerträglich. Wenn es regnet, dringt überall Wasser ein. Dann müssen wir auf Stühle klettern und unser letztes Hab und Gut schwimmt davon. Die Ratten fressen uns bei lebendigem Leib, sie kommen sogar in unsere Betten und beissen uns im Schlaf.»

Hunderte Notlager

Die wenigsten Notlager wurden systematisch geplant und angelegt. Sie finden sich heute noch auf ehemaligen Mülldeponien, in Überschwemmungsgebieten oder am Fuss ungesicherter Steilhänge. Stromanschlüsse und Latrinen gibt es kaum, die Cholera greift um sich. Ende August 2010 zählte Amnesty International 891 Lager allein im Stadtgebiet der Hauptstadt Port-au-Prince. Nur drei dieser Lager wurden von internationalen Hilfsorganisationen errichtet und geplant und entsprechen daher weitgehend internationalen Standards. In diesen drei Camps leben 12’000 Menschen - ein Buchteil der mehr als einer Million Menschen, die bis heute im Gebiet der Hauptstadt als wohnungslos registriert sind.

Nach der umstrittenen ersten Runde der Präsidentenwahl im November ist für Mitte Januar eine Stichwahl geplant. Amnesty International fordert die neue Regierung auf, im Rahmen des Wiederaufbaus des Landes einen Plan zu erarbeiten, wie Frauen besser geschützt werden können. Die Frauen in den Lagern müssen dabei voll eingebunden sein. Kurzfristig muss die Sicherheit in den Camps erhöht werden, fordert Amnesty. Die Polizei muss effektiv reagieren und sicherstellen, dass Täter auch zur Verantwortung gezogen werden.

Berichten nach passiert die Polizei zwar die Lager, sorgt aber in den Camps selbst nicht für Sicherheit und weist betroffene Frauen mit den Worten ab, man könne nichts für sie tun. «Es gibt keine Sicherheit für die Frauen und Mädchen in den Lagern», schildert Ducos eindringlich. «Für Frauen in den überbevölkerten Lagern ist Haitis ohnehin schon fragile öffentliche Sicherheit und Ordnung komplett zusammengebrochen.»