Der Bericht «The Years of Solitude Continue» zeigt auf, dass das am 24. November 2016 unterzeichnete Friedensabkommen für zahlreiche indigene und afro-kolumbianische Gemeinschaften im Departement Chocó noch kaum spürbar ist. 60 Prozent der dortigen Bevölkerung werden offiziell als vom bewaffneten Konflikt betroffen eingestuft.
Das Friedensabkommen sollte den 50 Jahre währenden bewaffneten Konflikt beenden, in dessen Verlauf über 220'000 Menschen getötet und fast sieben Millionen vertrieben wurden.
Frieden für Millionen Menschen noch keine Realität
«Obwohl die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens insgesamt gesunken ist, sind noch immer Millionen Menschen von den Auswirkungen des Konfliktes betroffen», sagt Lisa Salza, Länderverantwortliche für Kolumbien bei Amnesty Schweiz.
«In einigen Landesteilen wie dem Departement Chocó ist der Staat praktisch nicht präsent, sodass ganze Gemeinschaften ohne Schutz den illegalen bewaffneten Gruppen ausgesetzt sind. Solange die Regierung diese Gemeinschaften nicht schützt, bleibt der Frieden für sie eine unerreichbare Realität.»
Gewalt und humanitär schwierige Lage im Chocó
Amnesty International hat das Departement Chocó im Westen Kolumbiens im Zuge der Recherchen für den vorliegenden Bericht mehrmals besucht. Es handelt sich um eine rohstoffreiche Region, in der bewaffnete Gruppen nach wie vor aktiv sind. Amnesty International hat mit indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften gesprochen, um herauszufinden, inwiefern sich die Umsetzung des Friedensabkommens und die Präsenz verschiedener bewaffneter Gruppierungen gepaart mit der fast vollständigen Abwesenheit des Staates auf ihre Lebensrealität auswirkt.
Die Ergebnisse der Befragungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Tausende Menschen mussten aus Angst vor den verschiedenen bewaffneten Gruppierungen ihre Heimatorte verlassen und erhalten keinerlei staatliche Unterstützung.
- In einigen Fällen mussten die Gemeinschaften an Orte flüchten, wo die Lebensbedingungen sehr schlecht sind, weil die Unterkünfte überfüllt sind und es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und ausreichender Nahrung gibt.
- MenschenrechtsverteidigerInnen und SprecherInnen von Gemeinschaften, die Verstösse anzeigen, werden bedroht, einige sind sogar getötet worden. Zu den Opfern der jüngsten Zeit gehört Aulio Isaramá Forastero, ein Indigenensprecher aus Chocó, der in der Nacht des 24. Oktober mutmasslich von Mitgliedern des ELN getötet wurde.
- Auch geschlechtsspezifische Gewalt ist in der Region weit verbreitet. Viele Frauen und Mädchen sprechen aus Angst nicht darüber, was ihnen angetan wurde.
Der Staat ist abwesend, bewaffnete Gruppen umso präsenter
Am 2. Mai 2002 wurden fast 120 Zivilpersonen, vor allem Kinder, getötet. Es handelte sich um das schlimmste Massaker im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der FARC und den Paramilitärs um die Kontrolle lokaler Gebiete in der Stadt Bojayá im Departamento Chocó. Organisationen vor Ort werfen den Behörden vor, die vielen Berichte der örtlichen Bevölkerung über Menschenrechtsverstösse in den Jahren vor dem Massaker ignoriert zu haben.
15 Jahre später sind die örtlichen Gemeinschaften den bewaffneten Gruppen immer noch schutzlos ausgesetzt. Sie fühlen sich von den staatlichen Stellen im Stich gelassen, weil diese nichts tun, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung in der Region ohne Angst vor Menschenrechtsverstössen seitens dieser Gruppen leben kann und sich Massaker wie dieses nicht wiederholen.
«Die zahlreichen Herausforderungen, die mit der Umsetzung des Friedensprozesses einhergehen, sind keine Rechtfertigung für den Staat, sich der Verantwortung zu entziehen, das Abkommen umzusetzen und die Zivilbevölkerung zu schützen», sagt Lisa Salza.
«Die einzige Möglichkeit, sicherzustellen, dass sich diese Verbrechen nicht wiederholen, ist, die im Friedensabkommen enthaltenen Massnahmen zum Schutz der Betroffenen umzusetzen. Ein erster wichtiger Schritt wäre, mehr Ressourcen für die Einheiten zum Schutz der Lokalbevölkerung bereitzustellen. Ebenso muss die Regierung Ermittlungen zu Menschenrechtsverstössen einleiten und öffentlich eingestehen, dass die vermeintlich demobilisierten Paramilitärs noch immer aktiv sind.»
Forderungen an die Schweiz
Die Schweiz begleitet die Friedensbemühungen in Kolumbien schon seit Jahren. Die Verhandlungen in Quito zwischen der ELN-Guerilla und der kolumbianischen Regierung unterstützt sie finanziell und mit Expertise. Die Schweiz steht an sechster Stelle der internationalen Geldgeber für den «Colombia in Peace Fund».
Nebst dem finanziellen Engagement, ist es wichtig, dass die Schweiz ihre guten Kontakte nutzt, um sich für wirkungsvolle Schutzmassnahmen der indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung in konfliktbetroffenen Regionen und für eine vollständige Demobilisierung der illegal bewaffneten Gruppierungen in diesen Regionen einsetzt. Mit ihrer Expertise in active participation (aktiver Mitwirkung) sollte sie sich dafür einsetzen, dass die VertreterInnen der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften in die Ausarbeitung der Schutzmassnahmen miteinbezogen werden.