In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagten Sie, leben in der Provinz Guerrero bedeute, in die Dunkelheit geboren zu werden und in der Dunkelheit zu leben. Was genau meinen Sie damit?
Damit sind die Lebensbedingungen der Menschen in Guerrero gemeint. Kinder werden in eine Situation ohne jegliche Chancen geboren. Sie werden auf die Erde geboren und nicht einmal würdig im Leben empfangen. Die Mütter können nicht in ein Spital gehen, sie haben kein Bett. Wenn sie die Augen öffnen sehen sie, dass sie in eine Hölle geboren wurden. Sie werden andauernd bestraft von Militärs, von der Polizei, allein durch ihr Dasein. Sie leben in Vergessenheit.
Warum sind die Menschen so arm, warum ist Guerrero die ärmste Region in Mexiko?
Bevor die Spanier kamen, gab es in den Bergen ein Königreich, das hiess Tlachinollan. Auch unsere Organisation heisst so, denn unsere Vision ist, dass die Bergbewohner sich wieder selber regieren und autonom sein können. Sie lebten ihre eigene Lebensweise, zwar nicht in Luxus, aber sie hatten ihre eigene Regierung in Tlapa. Als die Spanier die indigene Mittelklasse ausgelöscht hatten, flohen alle in die Berge, eine Strategie, um sich nicht verskalven zu lassen. Das hatte zur Folge, dass sie von der weiteren politischen Entwicklung ausgeschlossen waren und sich nicht mehr in den Staat von Mexico integrieren konnten. Sie leben in einer Art Enklave und haben jeglichen Bezug verloren. Hernando Cortez hatte sich dort in einer Villa niedergelassen, weil es überall Gold gab. Es gab neun verschiedene Völker in der Region Guerrero. Jetzt sind es nur noch vier. Die Guepo waren ein Kriegsvolk, sie liessen sich nie von den Spaniern unterdrücken. Deshalb wurden sie ausgerottet.
Die Situation der indigenen Bevölkerung zwischen den Militärs der Regierung und den sich bekämpfenden Drogenkartellen scheint aussichtslos. Was unternimmt Ihre Organisation, um die Menschen zu unterstützen?
Wir versuchen vor allem, diese Tragödie sichtbar zu machen. Wir zeigen, dass ihre Stiuation nicht die Normalität ist, sondern dass hinter der Repression ein System steht, die Politik. Die Leute wehren sich gegen diese Diskriminierung und gegen den organisierten Rassismus der Regierung. Sie haben nicht resigniert. Es sind Völker, die sich immer gewehrt haben, schon für die Unabhängigkeit von Mexico mit Zapata.
Als Kämpfer für die Unabhängigkeit von Mexico verdienten sie wenigstens die Unterstützung der mexikanischen Regierung...
Das ist die grosse Schuld, welche die mexikanische Regierung gegenüber diesen indigenen Völkern hat. Das ist die grosse Wunde, dort bluten die Indigenen. Doch sie haben sich organisiert und ihren Bürgermeister weggejagt, weil er korrupt war und ihr Geld gestohlen hat.
Wollen beziehungsweise könne sie sich denn selber verwalten?
Sie versuchen es. Aber politisch ist das nicht möglich. Mindestens möchten sie die öffentlichen Gelder, die ihnen zustehen, selber verwalten. Doch dieser Unabhängigkeitsprozess ist noch nicht gereift. Es ist mehr ein Widerstandskampf, weil sie soviel Diskriminierung erfahren müssen.
Die Spanier waren ausschliesslich am Gold der Indigenen interessiert. Wie ist das heute?
Cochoapa el Grande ist das ärmste Dorf im ganzen Land, obwohl die Leute eigentlich Reichtum hätten. Denn nicht nur zu Zeiten der spanischen Eroberer, auch heute gibt es viele Silber- und Goldminen in den Bergen. In den letzten Jahren kamen deshalb kanadische Minenunternehmen ins Land, um den Boden zu untersuchen, allerdings ohne die Bevölkerung zu konsultieren. Wir vom Zentrum Tlachinollan haben jetzt auch mit diesen Unternehmen zu tun. Wir wollen die Leute auf die Gefahren aufmerksam machen und verhindern, dass sich die Geschichte noch einmal wiederholt. Wir organisieren Versammlungen und informieren die Leute über ihr Recht auf Information, dass es nationale Richtlinien gibt und wir helfen ihnen, sich gegen diese Unternehmen zu organisieren.
Beschreiben Sie bitte die tägliche Arbeit Ihrer Organisation Tlachinollan.
Normalerweise empfangen wir 20 bis 30 Leute aus den indigenen Dörfern in unseren Büros in Tlapa. Wir sind jedoch bloss acht Rechtsanwälte. Die Menschen kommen zu Fuss oder in einem Auto zu uns. Viele verstehen kein Spanisch. Anwälte und Leute aus der Region helfen zu übersetzen. Aktuell haben wir einen Fall, wo eine Strasse durch das Kulturland der Campesinos gebaut wird, ohne dass sie gefragt wurden. Es sind heilige Stätten, weil dort ihre Toten begraben sind. Sie fragten uns, was sie tun könnten. Die Arbeiter des Bundesstaates sind immer noch dort.
Dahinter stecken die Minengesellschaften?
Das ist offensichtlich. Die Leute haben die Baumaschinen gestoppt und so die Bauarbeiten unterbrochen. Wir gingen an den Ort, wo das passiert ist, die Rechtsanwälte auch und ich, um das Ganze etwas zu beruhigen, damit die Situation nicht eskaliert. Die Regierung wirft der Bevölkerung vor, sie sei gegen die Erschliessung und damit gegen die Entwicklung der Region, weil sie sich wehrt. Die Strassen sind jedoch genau so breit, dass die Lastwagen für die Minen passieren können. Wir haben den Bürgermeister dieser Region in unsere Büros von Tlachinollan geholt, um ihn anzuhören und den Leuten zu zeigen, dass sie mit ihm in einen Dialog treten können.
Der Bürgermeister pflegte also bisher keinen Kontakt mit der Bevölkerung? Das ist doch aber sein Job?
Nein, diesen Dialog gab es nicht. Tlachinollan baut hier eine Brücke und sagt auch der Behörde, dass sie die Bevölkerung konsultieren muss. Dieses Problem besteht in ganz Mexiko. Sobald jemand an der Macht ist, glaubt er, niemanden mehr konsultieren zu müssen, es gibt also keinerlei Dialog. Genau das konnten wir aber erreichen. Die Behörden wollen immer erreichen, dass wir anstelle von ihnen mit den Leuten sprechen, weil wir den Draht zu ihnen haben. Doch unsere Rolle ist, das zu verhindern und den Behörden immer wieder klar zu machen, dass sie mit der Bevölkerung reden müssen. Dann haben die Leute mit dem Bürgermeister angefangen zu reden, mit Respekt. Sie würden weiterhin die Arbeiten blockieren und nicht zulassen, dass diese Strasse gebaut werde. Sie seien zu allem bereit.
Und die Antwort des Bürgermeisters?
Er musste das akzeptieren und sogar ein Dokument unterzeichnen, in dem er versprach, dass die Arbeiten und das Projekt nicht mehr weitergeführt würden. Wir mussten den Leuten in den Bergen auch sagen, dass sie Widerstand leisten und sich ganz konkret vor die Maschinen stellen sollen. Wir müssen ihnen immer auch konkrete Aktionen vorschlagen, denn allein die Diskussion um Gesetze und der Dialog mit den Behörden bringt nichts.
Aber in diesem konkreten Fall haben Sie Erfolg?
Die Leute leisten vor Ort immer noch passiven Widerstand. Ein weiteres Problem ist, dass andere Gemeinden für den Bau der Strassen sind. Die Regierung spielt bewusst die einzelnen Kommunen gegeneinander aus, die sich dann untereinander bekämpfen.
Für die Leute bedeutet es ein Riesenaufwand, um zu Ihnen in die Stadt zu kommen. Sie müssen alles stehen und liegen lassen und riskieren, dass sie hungern müssen, weil sie sich nicht um Nahrung kümmern können. Wie geht Ihre Organisation damit um?
Wenn man für Gerechtigkeit kämpfen will, muss man zuunterst beginnen, dass zum Beispiel die Kinder etwas zu essen haben. Wir haben eine eigene Bildungsabteilung und sind in diesen kleinen Dörfern präsent. Wir versuchen sie darin anzuleiten, wie sie sich selber entwickeln können. Wir arbeiten sozusagen auf einer zweiten Ebene direkt mit den Dörfern zusammen, damit sie sich selber stärken können. Es sind kleine Projekte über bestimmte Anbaumethoden oder über den Zugang zu Bildung für ihre Kinder. Das geht zwar sehr langsam vorwärts, zeigt aber Erfolg. Zum Beispiel wollten die Campesinos einen Arzt. Die Behörden machten das aber von der Existenz einer Klinik abhängig. Also haben die Leute eine Klinik gebaut, die zwar nicht ganz den behördlichen Vorschriften entsprach, aber sie haben solange insistiert, bis sie einen Arzt bekommen haben. Wir haben den Fall unterstützt. Oder wir helfen beim Bau von sanitären Einrichtungen, von Latrinen, oder beraten sie, wie sie ihr Wissen über bestimmte Nutzpflanzen konkret anwenden können.
Vor vier Jahren hat der mexikanische Präsident Felipe Calderon der Drogenmafia den Krieg erklärt und damit wohl auch den Militärs den Freipass gegeben, schonungslos gegen die indigene Bevölkerung vorzugehen.
Diese Politik hat die Situation tatsächlich verschlimmert, nicht verbessert. Es gibt mehr Tote, es herrschen Verhältnisse wie in einem Krieg. Besonders schlimm ist, dass durch diese Politik die Drogenkartelle nicht geschwächt, sondern noch stärker geworden sind. In bestimmten Regionen üben die Kartelle die totale Kontrolle über den Drogenhandel aus. Und sie übernehmen Aufgaben, welche eigentlich die staatlichen Sicherheitsbehörden ausüben müssten. Sie sagen, dass sie korrupte Polizisten verhaften und dafür sorgen, dass die Bevölkerung in Sicherheit leben kann. Wir befinden uns in einer grossen Krise, in der die Behörden die Kontrolle über ihre Institutionen verloren haben und das Justizsystem nicht mehr funktioniert. Die Menschen haben das Vertrauen in die Polizei und in die Justiz verloren. Die Korruption hat alles kaputt gemacht und die öffentlichen Institutionen zerstört. Die Delinquenz hat die staatlichen Strukturen infiltriert. Die Menschen fühlen sich ohnmächtig und sind noch unsicherer geworden. Das Gewaltpotenzial hat sich verschärft, besonders unter der armen Bevölkerung. Zusammen mit Armut und Hunger ergibt das einen hochexplosiven Cocktail, der zu gewalttätigen Ausschreitungen führen kann.
Gibt es denn organisierten zivilen Widerstand?
Die Zivilgesellschaft wurde apathisch. Sie ist fragmentiert, hat Angst und mobilisiert sich nicht. Es gibt zwar einen starken Widerstand, aber eine grosse und wirksame Widerstandsbewegung fehlt. Die Gesellschaft hat sich angesichts des Konflikts zwischen den Drogenkartellen und dem Militär zurückgezogen.
Mit welcher Taktik oder Strategie kann man mit dieser explosiven Lage umgehen beziehungsweise darin überleben?
Wir wissen nicht, wie wir uns gegenüber dieser Gewalt vom Staat und von den Kartellen verhalten sollen. Viele Journalisten und MenschenrechtsverteidigerInnen wurden umgebracht. Jeder versucht auf seine Weise, mit dieser Situation fertig zu werden. Das ist das grosse Problem. Viele haben zwar Verfügungen vom Gericht, aber garantiert ist damit nichts. Niemand vertraut niemandem.
Woher nehmen Sie und ihre Leute von Tlachinollan die Kraft, trotz der aussichtslosen Lage immer weiter zu machen? Was ist Ihre Vision?
Wir müssen in dieser Dunkelheit leben ohne zu wissen, warum und woher diese Aggression kommt. Die Indigenen haben eine Weisheit, die viele Jahrhunderte zurückgeht und daher kommt, dass diese Völker immer Widerstand leisten mussten. Sie wissen, wie man in der Dunkelheit vorwärts kommt, weil sie über Jahrhunderte gelernt haben, sich den Feinden zu widersetzen. Das gibt uns Kraft. Wenn wir an ihrem Leben, an ihren Dramen nicht mehr teilhaben können, dann macht unsere Arbeit keinen Sinn mehr. Das ist nicht von mir, das haben mich diese Menschen gelehrt. Das Land kann nicht weiter existieren, wenn es keine Gerechtigkeit gibt. Und wenn man dabei vergisst, die indigenen Völker mit einzuschliessen, dann gibt es keine sinnvolle Entwicklung. Das wissen sie.
Der Fall der Vergewaltigung von Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú gelangte bis vor den zentralamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Helfen solche Erfolge, die auch international für Aufsehen sorgen, der Sache?
Auf jeden Fall, wie zum Beispiel der Fall des Gewissensgefangenen Raul Hernandez, den Amnesty International publik gemacht hat. Lokal hätten wir niemals soviel Druck ausüben können, weil die lokalen Medien dem Fall nie die nötige Bedeutung gegeben haben. Der Druck, den Amnesty mit Briefen und einem Besuch bei Hernandez im Gefängnis auf die Behörden gemacht hat, war für diese wie eine Ohrfeige mit einem weissen Handschuh. Die Blicke einer internationalen Öffentlichkeit wogen sehr schwer für die lokalen Behörden. Sie fühlen sich beobachtet und lächerlich. Das hilft sehr viel.
Wir haben in den ersten Monaten dieses Jahres in Nordafrika erlebt, wie das Internet die Menschen im Widerstand unterstützt. Könnte damit Tlachinollans Arbeit und die Situation in Guerrero breiter publik gemacht und die mexikanische Regierung stärker in die Pflicht genommen werden?
Wir haben hier in der Dunkelheit der Berge keine Elektrizität, deshalb ist das leider nicht möglich. Die Entwicklung der Gesellschaft hier befindet sich im Keller. Es gibt rein gar nichts. Deshalb ist es wichtig, dass wir nahe bei den Leuten sind, um ihre Situation zu zeigen um zu beobachten, was normal erscheint, aber öffentlich zu sagen, dass es abnormal ist.
Woran denken Sie konkret?
An Diskriminierung und Vergewaltigungen der Frauen, an die permanente Gewalt durch die Behörden und durch den eigenen Ehemann, daran, dass die Kinder ohne Frühstück in die Schule gehen müssen, dass es in ihren Häusern ohne Fundamente kein Wasser gibt, dass sie für Wasser über eine Stunde gehen müssen, dass sie Schlafmohn anbauen müssen, um Schulbücher für die Kinder kaufen zu können.
Im Auftrag der Drogenmafia...
Sie sind die Sklaven des Drogenhandels. Das ist ein Leiden mehr. Sie profitieren rein gar nicht davon. Die Kinder wissen, wie man geschickt den Schlafmohn aufschneiden muss, sie sind darin Experten, anstatt in Lesen und Schreiben. Das ist nicht normal. Aber die Leute betrachten das als Normalität. Das müssen wir aufzeigen und bekämpfen. Damit es irgendwann Gerechtigkeit gibt.
Sie sind sehr idealistisch, was die Menschen in Guerrero betrifft. Warum?
In der armen Provinz Guerrero existieren Dörfer mit einer Zivilisation, die ein Beispiel für die heutige sogenannt moderne Gesellschaft sein könnte. Selbst unter den unmöglichsten Bedingungen leben die Indigenen eine neue Art des Zusammenlebens, dessen Kern es ist, das Wenige, das man hat, miteinander zu teilen. Alle Entscheidungen werden kollektiv getroffen. Über allem steht das Gemeinwohl. Alle sind gleichermassen für das Volk und sein Wohl zuständig. In ihrer Sprache existiert das Verb teilen, die Verben ausbeuten, horten oder anhäufen sind dagegen unbekannt. Entwicklung heisst für diese Völker nicht anhäufen, sondern dass man den nächsten wie seinen Bruder betrachtet. Jeder weiss, er wird mit dem anderen wachsen, aber nur, wenn der andere auch wächst. Wir müssen diese vergessenen Völker anschauen und von ihnen lernen. Denn die sogenannt zivilisierte Welt entmenschlicht sich zusehends. Die Leute haben vergessen was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Sie interessiert einzig Macht und Geld. Sie haben die Werte verloren, die der Grund dafür sind, dass jemand ein Mensch ist. Dort in den Bergen von Guerrero kann man das finden.
Interview: René Worni