Obwohl nach offiziellen Angaben die mit der organisierten Kriminalität in Verbindung stehende Gewalt rückläufig ist, bleibt die Situation weiterhin gravierend. Insgesamt wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2014 24‘746 Personen ermordet. Im September wurde eine offizielle Studie veröffentlicht, die davon ausgeht, dass im Jahre 2013 131‘946 Personen entführt worden waren. In vielen Bundesstaaten übernahmen immer noch die Armee und die Marine Aufgaben der Polizei, oftmals ohne dabei die nötigen Rechenschaftsberichte vorzulegen. Dies schlug sich in Beschwerden über willkürliche Festnahmen, Folter und andere Formen der Misshandlung sowie in aussergerichtlichen Verurteilungen oder gar Hinrichtungen nieder.
Verschwinden von 43 Studenten bewirkt internationalen Aufschrei
Entführungen und Verschleppungen ereigneten sich nach wie vor häufig. Der Verbleib einer Mehrheit dieser Opfer ist nach wie vor unbekannt. Im Laufe des Jahres wurden seitens der staatlichen Stellen widersprüchliche Angaben bezüglich der Opferzahlen veröffentlicht. Im August erklärte die Regierung, dass 22‘611 Personen verschleppt worden seien, davon 9.790 während der aktuellen Regierungsperiode und 12.821 Personen während der vorangegangenen Regierungsperiode unter Präsident Felipe Calderón (2006-2012). Die Regierung machte keine Angaben darüber, wie diese Zahlen berechnet wurden. Straflosigkeit blieb weiterhin die Norm in den Verschleppungsfällen. Im April erklärte die Regierung, dass auf bundesstaatlicher Ebene in den Jahren 2005 bis 2010 nur sieben Verurteilungen wegen Verschleppungen ausgesprochen worden waren. Die Verschleppung von 43 Lehramtsstudenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa (Bundesstaat Guerrero) im September führte zu einem internationalen Aufschrei. Nachdem verschiedene Massengräber und menschliche Überreste auf einer Müllhalde gefunden worden waren, erklärte der Generalstaatsanwalt Mexikos im November, dass die Ermittlungen darauf hinwiesen, dass die Studenten ermordet, verbrannt und daraufhin in einen Fluss geworfen worden seien. Mehr als 70 Angestellte des öffentlichen Dienstes und Mitglieder der organisierten Kriminalität wurden festgenommen und dem Richter vorgeführt. Ob Angestellte des öffentlichen Dienstes Verantwortung für ihre Taten (sei es eine aktive Verwicklung in dieses Verbrechen oder eine Unterlassung von Hilfeleistung) übernehmen müssen, ist unklar. Am 7. Dezember 2014 erklärte die Generalstaatsanwaltschaft, dass unabhängige Forensiker die Reste eines der Studenten identifizieren konnten. Zum Jahresende sind es immer noch 42 Studenten, deren Verbleib nicht aufgeklärt werden konnte.
Folter ist weit verbreitet
Willkürliche Verhaftungen, Folter und andere Formen von Misshandlung, die von Mitgliedern der Streitkräfte oder der Polizei begannen wurden, fanden weiterhin im ganzen Land statt. Diese Menschenrechtsverletzungen wurden oftmals begangen um «Geständnisse» zu erzwingen oder um Hinweise auf (Mit-)TäterInnen zu erhalten. Diese unzulässigen Beweise wurden oft auch in Strafverfahren verwendet. Obwohl unzählige Anzeigen bei (bundes-) staatlichen Stellen eingingen, kam es nur in wenigen Fällen zu Strafverfolgungen. Praktisch gesehen wurde keiner der verantwortlichen Beamten verurteilt. Angestellte des öffentlichen Dienstes handelten nicht nach den Vorschriften des Protokolls von Istanbul (welches zum Beispiel ein schnelles Verfahren oder das Recht des Opfers auf Einsicht in die Ermittlungsergebnisse beinhaltet). In zwei Ausnahmefällen stellte die Generalstaatsanwaltschaft die Verfahren ein, nachdem Beweise nachgewiesen hatten, dass die Angeklagten gefoltert worden waren um sich selbst – fälschlicherweise! – zu beschuldigen. Die Opfer haben zwischen drei und fünf Jahren in Untersuchungshaft gesessen. Es waren medizinische Untersuchungen, durchgeführt von unabhängigen Ärzten im Sinne des Protokolls von Istanbul, gewesen, welche die eindeutigen Beweise erbracht hatten, dass es sich um es um Fälle von Folter gehandelt hatte.
Gute Gesetze ungenügend umgesetzt
Die Straflosigkeit und das Misstrauen gegenüber dem Rechtssystem wurden weiter verstärkt. Die Behörden gingen Menschenrechtsverletzungen nicht nach oder agierten in den Ermittlungen oder im Strafverfolgungsprozess ineffizient. Im März trat das neue Gesetz zu Gerichtsprozessen (Código Nacional de Procedimientos Penales) in Kraft. Die Regierung bekräftigte, dass gemäss diesem neuen Gesetz Beweise und Aussagen, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, namentlich Folter, erlangt wurden, vor Gericht als unzulässig gelten würden. Bis jetzt wurde das Gesetz allerdings weder angewendet noch wurden detailliertere Ausführungen zum Ausschluss von Beweisstücken gemacht.
Im Januar wurde unter dem «allgemeinen Opfergesetz» (Ley General de Víctimas) die «Exekutivkommission zur Betreuung von Opfern» (Comisión Ejecutiva de Atención a Víctimas) gegründet. Diese hat zur Aufgabe, den Opfern von Straftaten und Menschenrechtsverletzungen verbesserten Zugang zum Rechtssystem und zu Entschädigungen zu ermöglichen. Es ist allerdings unklar, ob die Kommission über ausreichende Ressourcen und Befugnisse verfügt, um die Bedürfnisse der Opfer abdecken zu können.
Im Juni traten die Reformen des «Gesetzes zur Militärgerichtsbarkeit» (Código de Justicia Militar) in Kraft. Diese Reformen bestimmen, dass Straftaten, die von Mitgliedern der Streitkräfte gegenüber Zivilisten begangen werden, nicht mehr unter den Zuständigkeitsbereich der Militärgerichte fallen. Besagte Reformen stellen einen enormen Fortschritt dar, da sie der Straflosigkeit von Armeemitgliedern ein Ende setzen. Zum Jahresende befanden sich vier Soldaten in Haft des zivilen Rechtssystems.
MenschenrechtsverteidigerInnen eingeschüchtert, bedroht und umgebracht
Zahlreiche MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen sahen sich Angriffen und Bedrohungen ausgesetzt. Es kam auch zu Ermordungen, wobei es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen worden sind. Dies ist zu einem Grossteil auf die defizitären Ermittlungen zurückzuführen, in welchen sich häufig ein Desinteresse der staatlichen Behörden wiederspiegelt. Die allgemeine Straflosigkeit steigerte das Klima der Unsicherheit in welchem sowohl JournalistInnen als auch MenschenrechtsverteidigerInnen ihre Arbeit ausüben.Der «Mechanismus zum Schutz der MenschenrechtsverteidgerInnen und JournalistInnen» (Mecanismo de Protección para Personas Defensoras de los Derechos Humanos y Periodistas) erhielt in den ersten neun Monaten des Jahres 72 Fälle, doch er stellte keinen effizienten und angebrachten Schutz für die bedrohten Personen sicher. Die Umsetzung der vereinbarten Schutzmassnahmen hing häufig von der Unterstützung der lokalen Behörden ab; auch in den Fällen, in denen davon ausgegangen wurde, dass ebendiese an den Einschüchterungsversuchen mitgewirkt hatten. Einige MenschenrechtsverteidigerInnen sahen sich politisch motivierten Gerichtsverhandlungen ausgesetzt – vermutlich zu deren Einschüchterung. Viele der angeklagten AktivistInnen sagen sich in langwierige juristische Streitereien und unfaire Gerichtsverhandlungen verwickelt.
Mangelhafte Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Gewalt
Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen wie Vergewaltigungen, Entführungen oder Feminizide waren in ganz Mexiko weiterhin an der Tagesordnung. In einem Grossteil der Fälle wurden keine Massnahmen eingeleitet um die Prävention, den Schutz und Ermittlungsmechanismen der geschlechtsspezifischen Gewalt zu verbessern. Das «nationale System zur Prävention, Sanktion und Abschaffung der Gewalt gegen Frauen» (Sistema Nacional para Prevenir, Sancionar y Erradicar la Violencia contra las Mujeres) lehnte es ab eine entsprechende Sensibilisierungskampagne zu lancieren.
MigrantInnen und Indigene vom Rechtsstaat marginalisiert
Unsicherheit und soziale Entbehrungen im Herkunftsland bringen eine wachsende Anzahl zentralamerikanischer MigrantInnen, vor allem unbegleitete Minderjährige, dazu, Mexiko zu durchqueren, um in die USA zu gelangen. Kriminelle Banden töteten, entführten und erpressten diese Flüchtlinge häufig unter den Augen politischer Funktionäre. Vor allem Frauen und Kinder wurden Opfer von sexueller Gewalt und Menschenhandel. Es wurden weiterhin Fälle von Misshandlungen im Zuge von Festnahmen bekannt, die von der Polizei und den Funktionären der Einwanderungsbehörden begangen wurden. Die MigrantInnen warten darauf, aus der administrativen Festnahme entlassen zu werden. Diejenigen, die sich um die Flüchtlinge kümmerten, indem sie Unterschlupf anboten oder die begangenen Taten anzeigten, sahen sich Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Einige von ihnen wurden Schutzmassnahmen unterstellt; allerdings gab es andere Fälle in denen derartige Massnahmen nicht zur Anwendung kamen und erneute Drohungen nicht verhindert wurden.
Die indigenen Bevölkerungsgruppen wurden im Strafrechtssystem weiterhin diskriminiert und hatten nur eingeschränkten Zugang zu Einrichtungen der Grundversorgung wie Wasser, Wohnraum und medizinischer Versorgung. Es wurden weder ernst zu nehmende Befragungen über wirtschaftliche Grossprojekte auf indigenem Boden durchgeführt, noch wurde die Zustimmung von den indigenen Gemeinschaften zu solchen Megaprojekten eingeholt. Da besagte Projekte negative Einflüsse auf das indigene Territorium und die traditionelle Lebensweise der Indigenen hatten, kam es zu Protesten und Konflikten. Diese wiederum bewirkten, dass indigene Anführer bedroht, eingeschüchtert und angegriffen wurden.