Amnesty International hat mit 100 Frauen in mexikanischen Bundesgefängnissen über die Umstände ihrer Festnahme und Vernehmung gesprochen. Der Bericht Surviving Death: Police and Military Torture in Mexico («Den Tod überwinden: Folter durch Polizei und Militär an Frauen in Mexiko») offenbart das schockierende Ausmass an Gewalt durch Sicherheitskräfte, dem Frauen während dieser Zeit ausgesetzt sind.
Alle Frauen gaben an, während ihrer Festnahme oder Vernehmung sexuelle Gewalt oder psychische Misshandlungen erfahren zu haben. 97 der Frauen sagten, sie seien körperlichen Misshandlungen ausgesetzt gewesen. 72 berichteten, sie seien während ihrer Verhaftung oder in den darauf folgenden Stunden sexuell missbraucht worden. 33 gaben an, sie seien vergewaltigt worden.
«Die meisten der betroffenen Frauen gehören marginalisierten Gruppen an. Oftmals verfügen sie nur über einen geringen Bildungsstand und ein geringes Einkommen», sagt Lisa Salza, Länderverantwortliche der Schweizer Sektion von Amnesty International. «Diese Frauen werden von Behörden und Sicherheitskräften als einfache Ziele wahrgenommen und ihre erzwungenen 'Geständnisse' benutzt, um die Statistiken zu verbessern und Erfolge gegen die organisierte Kriminalität vorzutäuschen.»
Tatverantwortliche nicht zur Rechenschaft gezogen
66 Frauen meldeten die Misshandlungen den Behörden oder einem Richter, doch nur in 22 Fällen wurden Untersuchungen eröffnet. Amnesty International ist kein Fall bekannt, in dem es zu einem Strafverfahren kam. «Indem der mexikanische Staat keine ordnungsgemässen Untersuchungen einleitet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zieht, verwehrt er den Frauen Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Er sendet ausserdem ein gefährliches Signal: Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt werden toleriert und die Täter geschützt», stellt Salza fest.
«Amnesty International fordert die mexikanische Regierung dazu auf, endlich effektive Schutzmechanismen gegen Folter umzusetzen», so Salza weiter. «Wer einer Straftat verdächtigt wird, muss sofort nach der Festnahme Zugang zu einem Anwalt erhalten. Foltervorwürfe müssen gemäss dem sogenannten Istanbul-Protokoll sofort von unabhängigen medizinischen Experten untersucht werden. Und nicht zuletzt muss die Regierung endlich härter gegen Folter vorgehen und die Täter zur Rechenschaft ziehen.»
Verónica Razo, Überlebende von sexueller Folter
Am 8. Juni 2011 befand sich Verónica Razo in der Nähe ihrer Wohnung in Mexiko City als bewaffnete Männer in Zivil sie festnahmen und abführten. Die Männer brachten sie in ein Polizeigebäude, wo Verónica 24 Stunden lang gefoltert wurde: Sie wurde geschlagen, der vorgetäuschten Erstickung und Elektroschocks ausgesetzt und immer wieder von Polizeibeamten vergewaltigt. Mit dieser grausamen und unmenschlichen Behandlung brachten sie Verónica dazu, ein «Geständnis» zu unterschreiben, einem Entführungsring anzugehören. Nach dem Verhör kollabierte Verónica und sie musste mit Herzrhythmusstörungen ins Spital gebracht werden. Die Polizei behauptete später, Verónica erst am 9. Juni festgenommen zu haben. Doch ihre Mutter hatte sie schon tags zuvor als vermisst gemeldet.
Zwei Jahre nach ihrer Festnahme bestätigten GerichtspsychologInnen der Generalstaatsanwaltschaft, dass Verónica Symptome aufwies, die auf Folter schliessen lassen. Trotzdem sitzt Verónica fünf Jahre nach ihrer Verhaftung noch immer in einem Untersuchungsgefängnis, 150 Kilometer von ihrer Tochter und ihrem Sohn entfernt, und wartet auf ihr Urteil.