Nach einem erneuten Feminizid demonstrierten diese Aktivistinnen im November 2020 in Cancun gegen die Gewalt an Frauen und wurden dabei von der Polizei beschossen. © Maho Irigoyen/Amnesty International
Nach einem erneuten Feminizid demonstrierten diese Aktivistinnen im November 2020 in Cancun gegen die Gewalt an Frauen und wurden dabei von der Polizei beschossen. © Maho Irigoyen/Amnesty International

Mexiko Mangelhafte Untersuchungen von Frauenmorden

20. September 2021
Bei Untersuchungen von Frauenmorden kommt es in Mexiko wiederholt zu Verfahrensfehlern, welche das Recht der Angehörigen auf Rechtsschutz und Zugang zur Justiz stark einschränken. Amnesty International fordert daher in einem neuen Bericht, dass die Regierung die Versäumnisse untersucht und Massnahmen ergreift, um solche in Zukunft zu verhindern.

Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft von Mexiko in Fällen von Frauenmorden, denen ein Verschwindenlassen vorausgegangen ist, sind aufgrund der Untätigkeit und Nachlässigkeit der Behörden äusserst mangelhaft. Dies führt dazu, dass Beweise verloren gehen, nicht alle Ermittlungsansätze untersucht werden und die Geschlechterperspektive nicht umfassend berücksichtigt wird.

«Diese Unzulänglichkeiten behindern die Gerichtsverfahren und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Verantwortlichen straffrei davonkommen», schreibt Amnesty International in einem heute veröffentlichten Bericht mit dem Titel «Justice on trial: Failures in criminal investigations of feminicides preceded by disappearance in the State of Mexico» (Gerechtigkeit auf dem Prüfstand: Versäumnisse bei der strafrechtlichen Untersuchung von Frauenmorden mit anschliessendem Verschwindenlassen in Mexiko). Laut der Untersuchungen von Amnesty International kommt es immer wieder zu Versäumnissen in der Untersuchung und Prävention von Frauenmorden.  

«Die bundesstaatlichen Behörden müssen Frauenmorde mit der gebotenen Sorgfalt verhindern, untersuchen und bestrafen. Als Teil des mexikanischen Staates sind sie verpflichtet, die internationalen Verträge einzuhalten, denen Mexiko beigetreten ist, darunter die Konvention von Belem do Pará, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und die Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf Mexiko, die eine Reihe von Normen, Standards und Grundsätzen zur Gewährleistung der Rechte der Frau festlegen», sagte Edith Olivares Ferreto, Geschäftsführerin von Amnesty International Mexiko.

Untätigkeit der Behörden

Allein im Jahr 2020 wurden in Mexiko 3723 Morde an Frauen registriert, von denen 940 als Feminizide in den 32 Bundesstaaten des Landes registriert wurden. Kein einziger Bundesstaat war frei von Feminiziden.

Allein im Jahr 2020 wurden in Mexiko 3723 Morde an Frauen registriert, von denen 940 als Feminizide in den 32 Bundesstaaten des Landes registriert wurden.

«Jeder Frauenmord hat entsetzliche Auswirkungen auf die Familien der Opfer, die auf ihrer Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für das angerichtete Leid zusätzlich unter der erneuten Viktimisierung durch die Behörden leiden. Aus diesem Grund besteht Amnesty International weiterhin darauf, dass das Thema Gewalt gegen Frauen eine hohe Priorität auf der Agenda der föderalen und lokalen Regierungen haben muss», sagt Edith Olivares Ferreto.   

In dem Bericht dokumentiert Amnesty International vier Fälle von Frauenmorden, denen ein Verschwindenlassen vorausging, und geht dabei insbesondere auf die Mängel in den strafrechtlichen Ermittlungen zu den einzelnen Morden ein. Bei den dokumentierten Fällen handelt es sich um die Tötung von Nadia Muciño Márquez, die 2004 ermordet wurde; Daniela Sánchez Curiel, die 2015 verschwand, deren Verbleib unbekannt ist und deren Familie annimmt, dass sie Opfer eines Femizids wurde; Diana Velázquez Florencio, die 2017 verschwand und getötet wurde; und Julia Sosa Conde, die verschwand und Ende 2018 getötet wurde.

Der Bericht zeigt, dass die Behörden der einzelnen Bundesstaaten den Tatort nicht ordnungsgemäss untersucht haben, die gesammelten Beweise nicht sicher aufbewahrten oder keine forensischen Tests oder Verfahren durchführten, was zum Verlust von Daten, Gegenständen und Zeug*innenaussagen führte.

Die Behörden gehen nicht immer allen Ermittlungsansätzen nach, und ihre Untätigkeit führt dazu, dass die Angehörigen der Opfer – in der Regel Frauen – eigene Ermittlungen anstellen und dafür ihre eigenen Ressourcen einsetzen. In einigen Fällen bedrohen und schikanieren die Behörden die Familien, damit sie den Fall nicht an ihre Vorgesetzten weitergeben. Die Behörden berücksichtigen während des gesamten Strafverfahrens nicht immer die Geschlechterperspektive, was einen Verstoss gegen die Vorschriften über die Untersuchung von Morden an Frauen darstellt.

Die dokumentierten Versäumnisse führen dazu, dass das Menschenrecht der Frauen auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie das Recht ihrer Familien auf Rechtsschutz und Zugang zur Justiz verletzt wird.

Der Bericht zeigt auch, dass die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Mexiko nicht über die notwendigen Voraussetzungen verfügen, um Ermittlungen durchführen zu können: Die Arbeitsbelastung ist zu hoch und es fehlt an geeigneten Instrumenten, um bestimmte Verfahren durchzuführen. Darüber hinaus müssen die Mitarbeiter*innen einen Teil der für die Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Materialien selbst bezahlen, und ihre Büros verfügen über keine Möglichkeit, Beweismaterial sicher zu lagern, wodurch sich das Risiko der Verunreinigung und Zerstörung erhöht. Ausserdem benötigen sie eine spezielle Ausbildung, um die Ermittlungen ordnungsgemäss durchführen zu können.

Die in den Ermittlungen dokumentierten Versäumnisse führen dazu, dass das Menschenrecht der Frauen auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie das Recht ihrer Familien auf Rechtsschutz und Zugang zur Justiz verletzt wird. Um die Rechte der Opfer zu schützen, spricht Amnesty International die folgenden Empfehlungen aus.

  • An die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Mexiko: Stellen Sie sicher, dass die zentrale Staatsanwaltschaft für Verbrechen im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt über die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen verfügt, um ihre Aufgaben effizient und unter angemessenen Arbeitsbedingungen zu erfüllen, und konzipieren Sie Schulungen zur Untersuchung des Verschwindenlassens und der Tötung von Frauen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive.
  • An den Kongress des Bundesstaates Mexiko: Stellen Sie sicher, dass die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Mexiko, insbesondere die Zentrale Staatsanwaltschaft für Verbrechen im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt, über die personellen und finanziellen Mittel verfügt, um ihre Aufgaben ordnungsgemäss zu erfüllen.
  • An die Menschenrechtskommission des Bundesstaates Mexiko: Untersuchen Sie das Problem der mangelhaften strafrechtlichen Ermittlungen bei Gewaltverbrechen gegen Frauen, insbesondere bei Feminiziden und dem Verschwindenlassen von Frauen, und geben Sie Empfehlungen ab, die sich mit den in diesem Bericht aufgezeigten Problemen befassen.
  • An die Bundesbehörden: Geben Sie öffentlich das Ausmass der Feminizide und des Verschwindenlassens von Frauen in Mexiko sowie die Versäumnisse bei den Ermittlungen zu diesen Verbrechen zu.

Parallel zur Veröffentlichung des Berichts hat Amnesty International die Kampagne #HastaSerEscuchadas (Bis sie gehört werden) ins Leben gerufen, die darauf abzielt, dass die Behörden die Versäumnisse bei der Untersuchung von Frauenmorden öffentlich anerkennen, den Empfehlungen der Bewegung nachkommen und einen Prozess zur Wiedergutmachung des durch diese Versäumnisse verursachten Schadens einleiten.

«Wir von Amnesty International werden weiterhin unsere Stimme gemeinsam mit den Familien der Opfer erheben und sie bei ihrer Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für das erlittene Leid unterstützen, bis sie gehört werden», sagte Edith Olivares Ferreto.