Der mexikanische Journalist Alberto Amaro.  © Duncan Tucker/Amnesty International
Der mexikanische Journalist Alberto Amaro. © Duncan Tucker/Amnesty International

Mexiko Tötungen von Medienschaffenden offenbaren Defizite des staatlichen Schutzes

6. März 2024
In den vergangenen sieben Jahren wurden in Mexiko acht Journalist*innen getötet, obwohl sie unter dem Schutz eines staatlichen Mechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen standen. Diese Zahl macht deutlich, wie dringend die Institution gestärkt und reformiert werden muss.

Der gemeinsame Bericht von Amnesty International und dem Komitee für den Schutz von Journalist*innen (CPJ) mit dem Titel «‘No one guarantees my safety’: The urgent need to strengthen Mexico’s federal policies for the protection of journalists» liefert eine Analyse des föderalen Mechanismus, der 2012 eingerichtet wurde, um Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen in Mexiko, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit extremen Drohungen und Angriffen ausgesetzt sind, zu schützen. Amnesty International hat bereits zuvor Recherchen zu den Mängeln des Mechanismus beim Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen veröffentlicht. Im vorliegenden Bericht, der gemeinsam mit dem sich für die Medienfreiheit einsetzenden CPJ erstellt wurde, geht es jedoch vor allem darum, was der Mechanismus für den Schutz von Journalist*innen leistet.

Mexiko ist FÜR JOURNALIST*INNEN das gefährlichste Land der westlichen Hemisphäre.

«Der staatliche Mechanismus zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen bleibt ein wichtiger Teil der Bemühungen der mexikanischen Regierung, das Land zu einem sichereren Ort für Journalist*innen zu machen, kann diese Aufgabe aber nur erfüllen, wenn er seine eigenen Mängel angemessen angeht», sagt Jan-Albert Hootsen, CPJ-Vertreter in Mexiko. «Nach Jahren unaufhörlichen Blutvergiessens und verheerender Straflosigkeit ist es nun an der Zeit, dass der mexikanische Staat handelt und zeigt, dass er endlich bereit ist, seine Verpflichtungen gegenüber der Pressefreiheit ernst zu nehmen.»

Mexiko ist für Journalist*innen das gefährlichste Land der westlichen Hemisphäre, wie vom CPJ seit 1992 umfassend dokumentiert wurde. Nach CPJ-Recherchen wurden seit Anfang dieses Jahrhunderts mindestens 153 Journalist*innen und andere Medienschaffende getötet, und bei mindestens 64 dieser Todesfälle wurde ein direkter Zusammenhang mit der Arbeit der Getöteten festgestellt. Straflosigkeit ist bei Verbrechen gegen Medienschaffende die Norm; laut dem jährlichen Straflosigkeitsindex des CPJ gehört Mexiko durchgängig zu den zehn Ländern mit der höchsten Zahl an unaufgeklärten Journalist*innen-Morden. CPJ hat auch festgestellt, dass Mexiko zwar das Land mit den meisten «verschwundenen» Journalist*innen ist, dass keiner dieser Fälle in Mexiko jedoch je zu einer Verurteilung geführt hat.

Fast die Hälfte der Angriffe auf Journalist*innen wurde gemäss Bericht von Behördenvertreter*innen verübt.

Neben Tötungen und Verschwindenlassen sind Medienschaffende in Mexiko konstanten Drohungen, Schikanen sowie physischem und psychologischem Missbrauch sowohl durch Behördenvertreter*innen als auch durch Mitglieder organisierter krimineller Banden ausgesetzt. Die meisten Drohungen und Angriffe stehen im Zusammenhang mit dem anhaltenden Kampf der Behörden gegen gewalttätige kriminelle Gruppen, der Militarisierung im Rahmen des sogenannten «Anti-Drogen-Krieges» und dem Versagen der Strafverfolgungsbehörden beim Schutz von Journalist*innen und der Öffentlichkeit inmitten von Korruptionsvorwürfen. So wurde von der Schutzinstitution selbst festgestellt, dass fast die Hälfte der Angriffe auf Journalist*innen, die sie in Mexiko verzeichnet hat, von Behördenvertreter*innen verübt wurden.

Schwache, unzureichende Schutzvorkehrungen

Der «Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen» wurde 2012 von der mexikanischen Regierung eingerichtet, nachdem Journalist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen jahrelang darauf gedrängt hatten, etwas gegen die ständigen Bedrohungen und Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger*innen und Medienschaffende zu tun.

In den vergangenen 18 Monaten haben Amnesty International und das CPJ diesen Mechanismus untersucht. Zu diesem Zweck haben sie ein breites Spektrum an öffentlich zugänglichen Informationen über die Institution sowie Dokumente, die sie durch Anfragen im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes beim mexikanischen Institut für den Zugang zu Informationen und den Schutz personenbezogener Daten erhalten haben, überprüft. Amnesty und International und das CPJ haben ausserdem Recherchen vor Ort in den Bundesstaaten Oaxaca, Quintana Roo und Tlaxcala durchgeführt und einen Fragebogen an 28 Journalist*innen ausgegeben, die beim Schutzmechanismus registriert sind.

Eigentlich ist der Mechanismus dafür zuständig, die Risiken einzuschätzen, denen Journalist*innen ausgesetzt sind, ihnen Schutzmassnahmen zur Verfügung zu stellen und sich mit bundesstaatlichen und nationalen Stellen zu koordinieren, um die Risiken zu mindern. In der Realität bietet der Mechanismus allerdings nur einigen Journalist*innen den dringend benötigten Schutz, viele andere werden jedoch nicht angemessen geschützt.

Im November 2023 waren 651 Journalist*innen beim Mechanismus registriert, darunter 469 Männer und 182 Frauen. Allerdings ist die Zahl der Schutzanfragen, die von dem Mechanismus abgewiesen wurden, in den vergangenen Jahren stark gestiegen, von nur einer im Jahr 2020 auf 14 im Jahr 2021, 49 im Jahr 2022 und weitere 49 in den ersten elf Monaten des Jahres 2023.

Nahezu alle Journalist*innen, mit denen Amnesty International und das CPJ gesprochen haben, gaben an, dass sie auch nach der Aufnahme in den Mechanismus Sicherheitsgefährdungen erleben mussten. Viele beschrieben die Reaktion des Mechanismus als langsam, bürokratisch und empathielos. Zahlreiche Journalistinnen hatten ausserdem den Eindruck, dass die Mitarbeiter*innen des Mechanismus möglichst wenig Risiken ihrerseits eingehen wollten und zudem ihr Geschlecht nicht berücksichtigten.

Symptomatische Fälle

Amnesty International und das CPJ haben drei symptomatische Fälle von Reporter*innen beschrieben, die in den Mechanismus aufgenommen wurden: Gustavo Sánchez Cabrera, Rubén Pat Cauich und Alberto Amaro Jordán (siehe die Urgent Action zu Alberto Amaro: Journalist in Gefahr). Gustavo Sánchez Cabrera und Rubén Pat Cauich wurden beide getötet, während sie unter dem Schutz des Mechanismus standen, und ihre Geschichten sind eine schmerzliche Mahnung an die Folgen eines unzureichenden Schutzes durch die Regierungsbehörde. Der Fall von Alberto Amaro Jordán, der den Mechanismus ersucht hat, seine Schutzmassnahmen nicht aufzuheben, nachdem diese als nicht mehr notwendig erachtet wurden, offenbart den Kampf von Journalist*innen mit der Bürokratie, das Versagen des Mechanismus, Risiken angemessen zu bewerten, und das schockierende Desinteresse der Behörden, Drohungen gegen Reporter*innen ernst zu nehmen.

«Unsere Untersuchung zeigt, dass die Tötung von Journalisten wie Gustavo Sánchez Cabrera und Rubén Pat Cauich hätte verhindert werden können, wenn die Behörden schnellere und entschlossenere Massnahmen zu ihrem Schutz ergriffen hätten.» Alberto Amaro Jordán, Reporter

«Wenn man den Mechanismus anruft, hat man manchmal das Gefühl, als würden sie einen ignorieren. Sie glauben, man lügt sie an», sagt Alberto Amaro Jordán. «Ich habe darauf hingewiesen, dass die Risikobewertung etliche Fehler aufweist. Sie haben mich ignoriert und beschlossen, meine Leibwächter abzuziehen.»

«Unsere Untersuchung zeigt, dass die Tötung von Journalisten wie Gustavo Sánchez Cabrera und Rubén Pat Cauich hätte verhindert werden können, wenn die Behörden schnellere und entschlossenere Massnahmen zu ihrem Schutz ergriffen hätten. Die mexikanischen Behörden müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Presse zu schützen und die Rechte von Journalist*innen auf Leben und freie Meinungsäusserung zu gewährleisten», meint Edit Olivares Ferreto, stellvertretende Geschäftsführerin von Amnesty International Mexiko.

Empfehlungen

Die Untersuchung zeichnet ein alarmierendes Bild einer mit zahlreichen Mängeln behafteten Institution, die einer grundlegenden Reform bedarf, um den Anforderungen von Journalist*innen in einem der Länder weltweit gerecht zu werden, in denen die Medien der höchsten Rate an Gewalt ausgesetzt ist. Besonders besorgniserregend sind das offensichtliche Fehlen grundlegender Kenntnisse zu Menschenrechtsfragen bei den Mitarbeiter*innen der Behörde, die erheblichen Versäumnisse des Mechanismus bei der angemessenen Bewertung der Risiken, denen Journalist*innen ausgesetzt sind, oder bei der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte und die mangelhafte Kommunikation mit den Schutzpersonen. Die Untersuchung zeigt auch, dass seitens des Mechanismus zunehmend die Tendenz besteht, Schutzmassnahmen für Journalist*innen zu verweigern, zu reduzieren oder zu streichen, obwohl diese nach wie vor eindeutigen und aktuellen Gefahren ausgesetzt sind.

Neben anderen Empfehlungen fordern Amnesty International und CPJ die mexikanischen Behörden auf, eine angemessene Finanzierung des Mechanismus zu gewährleisten und das Personal angemessen zu schulen, seine Risikobewertungsprozesse zu überprüfen und eine geschlechtsspezifische Perspektive in seine Protokolle aufzunehmen, um den besonderen Bedürfnissen von Journalistinnen besser gerecht zu werden.

Die Organisationen fordern ausserdem eine wesentlich engere Zusammenarbeit zwischen dem Mechanismus und den mexikanischen Ermittlungsbehörden auf bundesstaatlicher und nationaler Ebene, um gegen die Straflosigkeit und die Ursachen von Drohungen und Angriffen gegen Journalist*innen vorzugehen.

Die mexikanische Regierung muss unverzüglich Massnahmen ergreifen, um die Probleme des Mechanismus zu beheben. Dies ist besonders dringend angesichts der Tatsache, dass Mexiko auf einen neuen Wahlzyklus zusteuert, der Folgen dafür haben könnte, wie das Land mit schweren Menschenrechtsverletzungen und Grundrechten wie der Pressefreiheit umgeht.

Diese Untersuchung entstand unter Mitwirkung der unabhängigen Journalist*innen Primavera Téllez Girón, Luis Miguel Carriedo, Juan Pablo Villalobos Díaz und Cecilia Suárez.