Sechs Monate nachdem die Regierung begann, scharf gegen öffentliche Proteste gegen Sozialreformen vorzugehen, dokumentiert nun der Amnesty-Bericht «Instilling terror: From lethal force to persecution» (PDF, 55 Seiten englisch) schwere Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtliche Verbrechen seitens der nicaraguanischen Behörden, die zwischen dem 30. Mai und 18. September 2018 begangen wurden.
«Präsident Ortega hat nicht nur Polizeikräfte eingesetzt, um Demonstrierende willkürlich festzunehmen und zu foltern, sondern auch auf schwerbewaffnete regierungstreue Gruppen zurückgegriffen, um Menschen, die sich mutig gegen diese repressive Strategie stellten, einzuschüchtern, zu verletzen und zu töten», so Erika Guevara-Rosas, Expertin für die Region Amerikas bei Amnesty International.
«Die nicaraguanischen Behörden müssen alle regierungstreuen bewaffneten Gruppierungen umgehend auflösen und entwaffnen, und sie müssen dafür sorgen, dass die Polizei bei Demonstrationen Gewalt nur in einem Mass anwendet, das rechtmässig, angemessen und notwendig ist. Statt Protestierende als ‚Terroristen‘ und ‚Putschisten‘ zu kriminalisieren, muss Präsident Ortega die Rechte auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäusserung gewährleisten.»
Dieser neue Amnesty-Bericht folgt auf einen ersten Bericht von Ende Mai. Er zeigt auf, wie die Regierung ihre vorsätzlich tödliche Repressionsstrategie seither aufrechterhielt und sogar noch intensivierte. Ziel war und ist es, die Proteste niederzuschlagen und all diejenigen zu bestrafen, die an ihnen teilgenommen haben. Präsident Ortega und Vizepräsidentin Murillo stehen an der Spitze dieser Strategie. Sie diskreditieren die Protestierenden, um das gewaltsame Vorgehen der Behörden zu rechtfertigen, und bestreiten nach wie vor jegliche Menschenrechtsverletzungen.
Bis zum 24. August sind mindestens 322 Menschen getötet worden, hauptsächlich durch staatliche Akteure. Mehr als 2000 Personen wurden verletzt. Unter den Getöteten befinden sich auch 21 Polizisten. Die nicaraguanischen Behörden haben Berichten zufolge mindestens 300 Personen wegen ihrer Beteiligung an Protestveranstaltungen angezeigt (Stand: 18. August). Im Gegensatz dazu konnte Amnesty International keine Hinweise darauf finden, dass auch nur eine einzige Person wegen Menschenrechtsverletzungen oder völkerrechtlichen Verbrechen wie Folter oder aussergerichtlichen Hinrichtungen vor Gericht gestellt worden wäre.
Regierungstreue Gruppen ausgestattet mit Kriegswaffen
Die Behörden setzen zunehmend auf regierungstreue Gruppen, die mit militärischen Waffen ausgestattet sind und häufig mit der Polizei zusammenarbeiten, um Protestierende abzuschrecken, die Bevölkerung zu schikanieren und von den Demonstrierenden errichtete Strassensperren einzureissen. Bei der Belagerung der Nationalen Autonomen Universität Nicaragua in Managua am 13. Juli wurden Studierende, die den Campus besetzt hatten, von schwerbewaffneten regierungstreuen Gruppen willkürlich angegriffen. Zwei Personen wurden dabei getötet und mindestens 16 verletzt. Gleichzeitig blockierte die Polizei die Ausgänge und sorgte so dafür, dass mehr als 200 Studierende in der Universität festsassen.
Laut Recherchen von Amnesty International verfügen Polizeikräfte und regierungstreue Gruppen über folgende Waffen: AK-ähnliche Gewehre; Scharfschützengewehre der Machart Dragunov, Remington M24 und FN SPR; RPK- und PKM-Maschinengewehre; und sogar PG-7-Panzerfäuste. Einige dieser Waffen sind Kriegswaffen, die nicht für Einsätze der öffentlichen Sicherheit freigegeben sind.
Auch wenn manche Protestierende selbstgemachte Granatwerfer eingesetzt haben und eine Minderheit Berichten zufolge von Schusswaffen wie Schrotflinten und Gewehren Gebrauch gemacht hat, rechtfertigt dies dennoch nicht die grossflächige, unverhältnismässige und zumeist unterschiedslose Anwendung tödlicher Gewalt gegen alle Protestierenden, statt mit minimal nötigem Gewalteinsatz die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten.
Der Bericht dokumentiert sechs mögliche aussergerichtliche Hinrichtungen, die als Verbrechen unter dem Völkerrecht anzusehen wären. Hierzu zählt die Tötung des 16-jährigen Leyting Chavarría, der in der Stadt Jinotega in die Brust geschossen wurde, als die Polizei und regierungstreue Gruppen Strassensperren auflösten. Augenzeugenberichten zufolge wurde der Jugendliche, der lediglich mit einer Steinschleuder bewaffnet war, von einem Bereitschaftspolizisten getötet.
Folter und willkürliche Festnahmen
Die Bereitschaftspolizei soll sogar einen ihrer eigenen Kollegen, Faber López, getötet haben. Die Regierung machte mit Schusswaffen bewaffnete «Terroristen» für seinen Tod verantwortlich. Laut seiner Familie wies sein Körper jedoch keinerlei Schusswaffenverletzungen, sondern vielmehr Folterspuren auf. Am Abend vor seinem Tod hatte Faber López seine Familie angerufen und ihnen gesagt, dass er den Polizeidienst quittieren werde. Gleichzeitig hatte er die Befürchtung geäussert, dass seine Kollegen ihn töten wollten.
Der Amnesty-Bericht dokumentiert darüber hinaus mehrere Verstösse gegen das Rechtsstaatsprinzip sowie sieben Fälle möglicherweise willkürlicher Festnahmen. All dies scheint Teil der Strategie der Regierung zur Zerschlagung der Protestbewegung zu sein. Aus dem Bericht geht zudem hervor, wie die Behörden Folter einsetzten, um Protestierende zu bestrafen, Beweise zu fälschen und Informationen über Organisatorinnen und Organisatoren von Demonstrationen zu erhalten.
Amnesty International dokumentiert in diesem jüngsten Bericht mindestens zwölf Fälle möglicher Folter, darunter auch die sexualisierte Folterung einer jungen Frau in einer offiziellen Hafteinrichtung. In mehreren Fällen trugen die Betroffenen körperliche Verletzungen davon, die auch einen Monat später beim Gespräch mit Amnesty noch sichtbar waren.
Zahlreiche Personen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind, zeigen die Vorfälle aus Angst vor Repressalien nicht bei den Behörden an. Denn anstatt zeitnah für eine unparteiische und gründliche Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen zu sorgen, haben die Behörden in der Vergangenheit häufig die Betroffenen und deren Verwandten schikaniert und bedroht.
Vertriebene im eigenen Land
Im Zuge der Krise sind Tausende Menschen in Nicaragua zu Binnenvertriebenen geworden. Am 31. Juli gab das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) bekannt, dass beinahe 8000 Menschen aus Nicaragua Asyl in Costa Rica beantragt hatten – durchschnittlich 200 Personen pro Tag. Weitere 15'000 Menschen hatten bereits um Termine für einen Asylantrag in den kommenden Wochen gebeten.
«Mit seinen immer skrupelloseren und ausgefeilteren Strategien zur Unterdrückung der Bevölkerung hat Präsident Ortega für die schlimmste menschenrechtliche Krise in Nicaragua seit Jahrzehnten gesorgt. Tausende Menschen sahen sich bereits gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in anderen Landesteilen oder im benachbarten Costa Rica Schutz zu suchen. Die Regierung unter Ortega muss dieser gewaltsamen Repression umgehend ein Ende setzen», so Erika Guevara-Rosas.
Der Bericht von Amnesty International basiert auf zwei Recherchereisen nach Nicaragua und Costa Rica im Juli und September 2018, auf denen VertreterInnen der Organisation 115 Interviews führten und 25 Fälle von Menschenrechtsverletzungen dokumentierten. Für die Kontextanalyse wertete zudem ein Team aus Sachverständigen mehr als 80 Audio/Video- und Bilddateien aus.