© Flor Ruiz/Amnesty International
© Flor Ruiz/Amnesty International

Peru Brutale Repression der Sicherheitskräfte zeugt von Verachtung für die indigene und kleinbäuerliche Bevölkerung

Medienmitteilung 16. Februar 2023, London/Bern – Medienkontakt
Seit Beginn der Protestwelle in Peru im Dezember 2022 haben die Armee und die peruanische Nationalpolizei (PNP) wiederholt Protestierende rechtwidrig getötet und verletzt. Dabei sind die Opferzahlen unter der indigenen und kleinbäuerlichen Bevölkerung besonders hoch. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International heute bei der Veröffentlichung erster Rechercheergebnisse zur Menschenrechtslage in Peru.

Während der Untersuchungsmission, die zwischen dem 29. Januar und 11. Februar 2023 in Ayacucho, Andahuaylas, Chincheros und Lima durchgeführt wurde, erhielt Amnesty International Informationen zu 46 Fällen möglicher Menschenrechtsverletzungen. Amnesty International untersuchte 12 Todesfälle, die auf den Einsatz von Schusswaffen zurückgehen. Darüber hinaus gelangte die Menschenrechtsorganisation an Informationen zu schweren Mängeln bei der strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen und in der Rechtspflege.

«Angesichts von 48 Todesfällen durch staatliche Repression, elf Toten durch Strassenblockaden, einem getöteten Polizisten sowie Hunderten von Verletzten wird deutlich, dass die peruanischen Behörden den exzessiven und tödlichen Einsatz von Gewalt dulden. Dies ist seit mehr als zwei Monaten die einzige Antwort der Regierung auf den Aufschrei Tausender Gemeinschaften. Diese fordern die Wahrung ihrer Würde und ein politisches System, das ihre Menschenrechte garantiert», so Erika Guevara-Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International.

Im Kontext grosser politischer Unsicherheit kam es zu den ersten sozialen Unruhen in einigen der am stärksten marginalisierten Gebiete Perus. Dazu gehören die Regionen Apurímac, Ayacucho und Puno, deren mehrheitlich indigene Bevölkerung seit jeher unter Diskriminierung und ungleichem Zugang zu politischer Teilhabe leidet und für grundlegende Rechte in den Bereichen Gesundheit, Wohnung und Bildung kämpft. Die Proteste weiteten sich bald auf die Hauptstadt Lima und andere Teile des Landes aus.

Seit Beginn der Krise wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums bei Protesten mehr als 1200 Personen verletzt und 580 Polizist*innen verwundet. Allein in Juliaca in der Region Puno, wo ein hoher Prozentsatz der indigenen Bevölkerung lebt, wurden am 9. Januar 2023 17 Menschen durch die Polizei getötet. Anfang des Monats rief die Regierung in sieben Regionen den Notstand aus. Puno steht als einzige Region weiterhin unter der Kontrolle des Militärs.

Die meisten Toten waren Indigene

Amnesty International führte eine Analyse auf der Grundlage von Daten der peruanischen Ombudsstelle durch. Eine Auswertung der Todeszahlen zeigt: Obwohl die Regionen mit mehrheitlich indigener Bevölkerung nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung Perus ausmachen, entfallen auf sie 80 Prozent der Getöteten, die seit Beginn der Krise registriert wurden. Dies lässt darauf schliessen, dass die Behörden mit einer ausgeprägten rassistischen Voreingenommenheit handelten und bereits diskriminierte Bevölkerungsgruppen ins Visier nahmen.

Im Rahmen ihrer Untersuchung befragte Amnesty International mehrere Staatsangestellte, darunter Angehörige der Sicherheitskräfte und Mitarbeitende der Staatsanwaltschaft sowie des Büros der Ombudsstelle. Ausserdem wurden Geschäftsleute, Medienschaffende, zivilgesellschaftliche Organisationen, Anwält*innen, Familienangehörige und Augenzeug*innen befragt. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty wertete 36 Foto- und Videobeweismittel aus. Mindestens 11 dieser Beweismittel deuten auf einen exzessiven und zum Teil wahllosen Einsatz von tödlicher und potenziell tödlicher Gewalt hin, die seitens der Behörden ausgeübt wurde.

Willkürliche Tötungen und mögliche aussergerichtliche Hinrichtungen 

Neben mehrheitlich friedlichen Demonstrationen gab es Fälle gezielter Gewalt auch durch Demonstrierende, unter anderem durch das Werfen von Steinen mit selbstgemachten Schleudern und durch Feuerwerkskörper. Die Amnesty International vorliegenden Beweise deuten jedoch darauf hin, dass Polizei und Armee wahllos und in einigen Fällen gezielt in die Menge geschossen haben. Dabei wurden Umstehende, Demonstrierende und Personen, die Verletzten erste Hilfe leisteten, getötet oder verletzt. 

Von den 12 Todesfällen, die Amnesty International dokumentieren konnte, wurden offenbar alle Opfer durch Schüsse in die Brust, den Oberkörper oder den Kopf getötet. Dies könnte in einigen Fällen auf die vorsätzliche Anwendung tödlicher Gewalt hindeuten. 

Neben Schusswunden hat Amnesty International bei der Analyse von Bildern auch zahlreiche Verletzungen durch Pelletgeschosse festgestellt. Diese unpräzise Munition, die bei jedem Schuss mehrere Projektile freisetzt, ist für die Einschränkung von Demonstrationen denkbar ungeeignet.

Langsame und unzureichende Ermittlungen

Amnesty International hat mit Opfern gesprochen und offizielle Informationen eingeholt, die darauf hinweisen, dass die Generalstaatsanwaltschaft zwar einige wichtige Massnahmen ergriffen hat, dass aber fast zwei Monate nach den Ereignissen immer noch keine zentralen Ermittlungsschritte erfolgt sind. So gibt es weder Gutachten von Sachverständigen noch wurden Zeugenaussagen aufgenommen. In einigen Fällen wurde die Beweismittelkette nicht lückenlos dokumentiert, was eine wirklich unparteiische und gründliche Ermittlung verhindert.

«Die schwere Menschenrechtskrise, in der sich Peru befindet, wurde durch Stigmatisierung, Kriminalisierung und Rassismus gegenüber indigenen Völkern und kleinbäuerliche Bevölkerung verschärft. Diese wird mit Gewalt dafür bestraft, dass sie auf die Strasse geht, um ihr Recht auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung wahrzunehmen. Diese weit verbreiteten Angriffe auf die Bevölkerung führen zu einer klaren strafrechtlichen Verantwortung der Behörden, was deren Handeln betrifft, wie auch ihre Unterlassung, die Repression zu beenden – und zwar bis in die höchste Regierungsebene », sagte Erika Guevara-Rosas.

«Wir fordern Interimspräsidentin Dina Boluarte und die übrigen Staatsorgane erneut auf, die Repression zu beenden und auf die legitimen Forderungen der Protestierenden einzugehen. Die Behörden müssen ihrer Verpflichtung nachkommen, alle von den Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.»