Protestierende forderten Ende Januar 2023 den Rücktritt der peruanischen Präsidentin Dina Boluarte nach sechs Wochen gewalttätiger Proteste, die 61 Tote gefordert haben. Während der Proteste kam es zu Zusammenstössen zwischen Demonstrant*innen und der Bereitschaftspolizei. / Flagge von Peru als Symbolbild nach Ablauf der Bildrechte für das Originalbild © pixabay
Protestierende forderten Ende Januar 2023 den Rücktritt der peruanischen Präsidentin Dina Boluarte nach sechs Wochen gewalttätiger Proteste, die 61 Tote gefordert haben. Während der Proteste kam es zu Zusammenstössen zwischen Demonstrant*innen und der Bereitschaftspolizei. / Flagge von Peru als Symbolbild nach Ablauf der Bildrechte für das Originalbild © pixabay

Peru Suche nach Gerechtigkeit für die Opfer von Polizeigewalt darf nach der Anklageerhebung gegen die Präsidentin nicht ruhen

Medienmitteilung 6. Dezember 2023, London/Bern – Medienkontakt
Die Behörden dürfen nicht ruhen, bis die Opfer von Polizeigewalt im Kontext der landesweiten Proteste vor einem Jahr Gerechtigkeit erfahren haben. Dies fordert Amnesty International 12 Monate nach dem Beginn der Protestwelle, bei deren Niederschlagung 49 Zivilist*innen getötet und Hunderte von Menschen durch Angehörige des Militärs und der Polizei schwer verletzt wurden.

Am 27. November 2023 überschlugen sich die Ereignisse: Die peruanische Generalstaatsanwältin Patricia Benavides reichte eine Verfassungsklage gegen Präsidentin Dina Boluarte und mehrere Minister ihres Kabinetts ein. Diese ist Teil der ersten Phase eines Prozesses vor dem peruanischen Kongress, der darauf abzielt, der Präsidentin und den Ministern die Immunität zu entziehen, um sie strafrechtlich zu belangen. Pikantes Detail: Wenige Stunden zuvor hatte die Staatsanwaltschaft die Generalstaatsanwältin, welche nun Ermittlungen gegen die Präsidentin einleitete, ihrerseits beschuldigt, ein kriminelles Korruptionsnetz zu leiten.

Die peruanische Staatsanwaltschaft hatte im Dezember 2022 und Januar 2023 eine Reihe von Ermittlungen eingeleitet, welche die Befehlsverantwortung von sieben hochrangigen Beamt*innen, darunter Präsidentin Dina Boluarte, untersuchen.

Vor der Einreichung der Verfassungsklage hatte die peruanische Staatsanwaltschaft im Dezember 2022 und Januar 2023 eine Reihe von Ermittlungen eingeleitet, welche die Befehlsverantwortung von sieben hochrangigen Beamt*innen, darunter Präsidentin Dina Boluarte, untersuchen, aufgrund der Vorgehensweisen der Polizei und des Militärs im Rahmen der Niederschlagung der landesweiten Proteste.

«Obwohl die Staatsanwält*innen bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit den bei den Protesten getöteten oder verletzten Personen einige Fortschritte gemacht haben und auch hochrangige Beamt*innen, Polizist*innen und Militärs vernehmen, müssen sie noch tiefer graben. Es sind Beweise aufgetaucht, die auf eine mögliche strafrechtliche Verantwortung von Kommandant*innen oder anderen Befehlshabenden hinweisen. », sagte Ana Piquer, Direktorin für Amerika bei Amnesty International.

Amnesty International hat 25 der 49 Todesfälle, die sich im Rahmen der Proteste zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 ereigneten, dokumentiert und festgestellt, dass mindestens 20 davon als aussergerichtliche Hinrichtungen betrachtet werden können. Es handelt sich dabei um ein Verbrechen nach internationalem Recht und sollte als solches untersucht werden. Bis zur Einreichung der Verfassungsbeschwerde am 27. November waren keine Beamt*innen formell angeklagt worden, obwohl die Strafakten zu den Todesfällen die Namen der Einsatzleiter*innen, der an der Repression beteiligten Einheiten und Beamt*innen enthalten. Darüber hinaus haben mehrere Angehörige der Polizei und des Militärs gegenüber der Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen, dass die Präsidentin und die Minister des Kabinetts über die Operationen informiert waren. 

Schlüsselbeweise nicht analysiert

Amnesty International hat im Rahmen der ersten Ermittlungslinie, bei der es um die Befehlsverantwortung von sieben hochrangigen Beamt*innen geht, offizielle Dokumente analysiert und Rechtsvertretungen der Opfer, sowie die mit dem Fall befassten Staatsanwält*innen befragt. Nach den Informationen, die der Organisation vorliegen, hat die Staatsanwaltschaft zwar hochrangige Beamt*innen befragt, es aber offenbar versäumt, die wichtigsten Beweise miteinander in Verbindung zu bringen.

Amnesty International hat Beweise dafür gesammelt, dass Polizei und Militär mit scharfer Munition auf Proteste reagierten, eine Massnahme, die nach den internationalen Standards als unrechtmässig gilt.

Einerseits hat die Präsidentin nach Informationen gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärt, dass sie von den Polizei- und Militäraktionen als Reaktion auf die Proteste nichts gewusst habe und dass es nicht ihre Aufgabe sei, sich in diese einzumischen. Gemäss der peruanischen Verfassung ist die Präsidentin jedoch «Oberbefehlshaberin der Streitkräfte und der peruanischen Nationalpolizei». Öffentlichen Berichten zufolge wurde die Präsidentin ständig über die Situation während der Proteste informiert.

Die Staatsanwaltschaft versäumte es, eine Reihe von Schlüsselbeweisen zu analysieren. Beispielsweise scheint ein Polizeibeamter im Juni 2023 ausgesagt zu haben, er habe den mündlichen Befehl erhalten, bei dem Einsatz in Juliaca am 9. Januar, bei dem 18 Zivilist*innen ums Leben kamen, scharfe Munition zu verwenden. Er sagte aus, ihm sei gesagt worden, dieser Befehl stamme von der Präsidentin.

Die Staatsanwält*innen haben es möglicherweise versäumt, diesen Ermittlungsansatz weiterzuverfolgen oder den Offizier zu einer weiteren Befragung zurückzurufen. Amnesty International hat Beweise dafür gesammelt, dass Polizei und Militär mit scharfer Munition auf Proteste reagierten, eine Massnahme, die nach den internationalen Standards als unrechtmässig gilt.

Verzögerungen bei Ermittlungen

In der zweiten Ermittlungslinie hat das Sonderteam der Staatsanwaltschaft für die Opfer sozialer Proteste, das innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft eingerichtet wurde und seinen Sitz in der Hauptstadt Lima hat, im Laufe des Jahres Fortschritte gemacht. Das Team ist mittlerweile auf 41 Staatsanwält*innen unterschiedlichen Ranges angewachsen, die den verschiedenen Regionen, in denen die Proteste stattfanden, zugewiesen wurden.

Obwohl dieses Sonderteam wichtige Fortschritte gemacht hat, gibt es nach wie vor gravierende Unzulänglichkeiten. In den sechs Monaten seit der Übergabe der Akten an das Sonderteam in Lima haben die Zuständigen nur eine Handvoll Besuche an den Tatorten in jeder Stadt durchgeführt.

Die zuständigen Staatsanwält*innen haben so etwa die Stadt Andahuaylas, wo bei Polizeieinsätzen am 11. und 12. Dezember fünf Zivilpersonen getötet wurden, in sechs Monaten nur zweimal besucht. Anwält*innen der betroffenen Familien teilten Amnesty International mit, dass die Staatsanwaltschaft den Flughafen von Andahuaylas, einen Ort der polizeilichen Repression, acht Monate nach den Todesfällen zum ersten Mal besuchte. Auch in der Stadt Juliaca in der Region Puno, wo am 9. Januar 2023 18 Menschen bei der polizeilichen Niederschlagung von Protesten ums Leben kamen, führte die Staatsanwaltschaft, gemäss Angaben von Angehörigen und deren Anwält*innen erst im Oktober eine ordnungsgemässe Inspektion durch.

Neben den Verzögerungen bei den Ermittlungen hat auch die interne Organisation des Sonderteams den Fortgang der Ermittlungen beeinträchtigt und den Zugang der Opfer und Familien zur Justiz erschwert. Die Staatsanwält*innen und das Personal des Sonderteams wurden mehrfach ausgetauscht, was sich negativ auf die Weiterverfolgung der Fälle und den Kontakt mit den Rechtsvertreter*innen der Opfer auswirkte. Opfer und deren Angehörige haben auch auf Hindernisse bei der Abgabe ihrer Erklärungen über Videotelefonie hingewiesen, die auf den begrenzten Internetzugang in ländlichen Gebieten zurückzuführen sind, sowie auf Probleme bei der Gewährleistung von Übersetzungen in indigene Sprachen.

Die Armee und die Polizei arbeiten weiterhin nicht mit der Staatsanwaltschaft zusammen.

Diese Probleme beschränken sich nicht nur auf die Arbeit des Sonderteams; Anwält*innen, die Opfer im Verfahren gegen die Präsidentin und andere hochrangige Beamt*innen vertreten, berichteten Amnesty International, dass die Terminierung von Anhörungen in Lima chaotisch gewesen sei. Familienmitglieder reisten teils mit langen, teuren Busfahrten in die Hauptstadt, nur um am Tag der Anhörung zu erfahren, dass diese abgesagt wurde.

Lückenhafte Aufzeichnungen

Die Armee und die Polizei arbeiten weiterhin nicht mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Die Aufzeichnungen über Waffen und Munition sind nach wie vor unvollständig, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass es der Staatsanwaltschaft nicht gelungen ist, Waffen und ballistisches Beweismaterial unmittelbar nach den Ereignissen zu beschlagnahmen, aber auch auf die mangelnde Kooperation von Militär und Polizei. Der Chef der Streitkräfte sagte Amnesty International in einem Interview, dass die Gewehre, welche die Armee am 15. Dezember in Ayacucho eingesetzt hatte, im Januar der Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Das mit der Untersuchung der Ereignisse in Ayacucho beauftragte Sonderteam teilte Amnesty International jedoch mit, dass die Staatsanwaltschaft keine Waffen erhalten habe. Auch die peruanische Nationalpolizei (PNP) übermittelte der Staatsanwaltschaft unvollständige und lückenhafte Aufzeichnungen über die bei den Einsätzen verwendeten Waffen und Munition.

Amnesty International richtete drei Informationsanfragen an die peruanische Polizei, um genauere Informationen über die bei den Protesten verwendeten Waffen und Munition zu erhalten. Die Polizei kam diesen Anfragen nicht vollständig nach.

Auch scheint die Koordination zwischen den Staatsanwält*innen in den verschiedenen Bereichen der Generalstaatsanwaltschaft unzureichend zu sein, was bedeutet, dass wichtige Beweisstücke möglicherweise von einem Teil der Ermittlungen analysiert wurden, ohne dass dies mit anderen Bereichen derselben Institution geteilt wurde. Nach der peruanischen Strafprozessordnung müssen die Staatsanwält*innen des Sonderteams die vorläufige Phase ihrer Ermittlungen im April und Mai 2024 abschliessen, während für die Staatsanwält*innen, die gegen die Präsidentin ermitteln, eine Frist bis Juni gilt. Diese Termine stellen die Fristen dar, innerhalb derer die Staatsanwält*innen förmliche Anklagen erheben, in die zweite Phase der Ermittlungen eintreten und einen eventuellen Strafprozess anstreben können.  

«Der Stand der Ermittlungen zu den Todesfällen bei Protesten ist äusserst besorgniserregend, da einige der grundlegendsten Aufgaben noch nicht abgeschlossen sind. So wurden mehrere Familienmitglieder und Zeug*innen noch immer nicht befragt. In einigen Fällen wurden sogar grundlegende Beweismittel wie Autopsien erst kürzlich abgeschlossen», sagte Marina Navarro, Direktorin von Amnesty International Peru. «In der gegenwärtigen Situation ist es zwingend notwendig, dass schnelle, gründliche und unparteiische Ermittlungen durchgeführt werden. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst die Empörung derjenigen, die mit schweren Verletzungen oder dem Schmerz über den Verlust ihrer Angehörigen leben. Peru und die Welt müssen die Wahrheit erfahren, bevor es zu spät ist.»