Der Bericht «Who Called the Shots? Chain of Command Responsibility for Killings and Injuries in Protests in Peru» (Verantwortlichkeit der Befehlskette für Tötungen und Verletzungen bei Protesten in Peru) beschreibt wichtig Entscheidungen der Präsidentin Dina Boluarte in ihrer Funktion als Oberbefehlshaberin der peruanischen Streitkräfte und der Polizei. Die zuständige Staatsanwaltschaft sollte im Rahmen ihrer laufenden Ermittlungen auch die individuelle strafrechtliche Verantwortung der Präsidentin prüfen.
«Perus Präsidentin, Minister, Polizei- und Armeekommandierende haben Entscheidungen getroffen, die tödliche Folgen hatten.» Ana Piquer, Amerikas-Direktorin bei Amnesty International
«Perus Präsidentin, Minister, Polizei- und Armeekommandierende haben Entscheidungen getroffen, die tödliche Folgen hatten. Hunderte von Opfern und Überlebenden haben ein Recht zu erfahren, was hochrangige Beamt*innen wussten oder hätten wissen müssen und was sie unterlassen haben, um die Morde zu verhindern», sagte Ana Piquer, Amerikas-Direktorin bei Amnesty International.
Präsidentin Boluarte hat unter Eid gegenüber der Staatsanwaltschaft bestritten, dass sie direkten Kontakt zu den Befehlshabenden hatte, und spielte ihre Rolle bei der staatlichen Repression herunter. Trotzdem zeigt der Bericht, dass sie in den drei Monaten der landesweiten Proteste mehrmals mit den Verantwortlichen der Streitkräfte und der Polizei zusammentraf. Sie hatte somit mehrfach Gelegenheit, die massive und rechtswidrige Gewaltanwendung zu verurteilen und eine Änderung der Polizeitaktik anzuordnen. Doch statt diese häufigen Treffen mit Regierungsmitgliedern, Polizei- und Militärbefehlshabenden zu nutzen, lobte sie weiterhin öffentlich die Sicherheitskräfte,und beschimpfte die Demonstrant*innen als «Terroristen» und «Kriminelle», ohne dafür Beweise zu liefern. Statt ihre Untergebenen zur Rechenschaft zu ziehen, beschloss sie ausserdem, wichtige Beamt*innen in höhere Positionen zu befördern, obwohl diese direkt Polizei- und Militäroperationen beaufsichtigt hatten, welche zu zahlreichen Todesfällen geführt hatten.
Polizeikommandanten der peruanischen Nationalpolizei (PNP) unterzeichneten Einsatzpläne, in denen Demonstrant*innen als «Terroristen» bezeichnet wurden, setzten schwer bewaffnete Elitespezialeinheiten ein, autorisierten tödliche Gewalt und wiederholten dieselben Befehle monatelang, obwohl es zu zahlreichen Todesfällen kam. Darüber hinaus war die PNP nicht in der Lage, Amnesty International Einzelheiten über disziplinarische Massnahmen gegen die beteiligten Beamt*innen zu liefern, obwohl mindestens 18 Disziplinarverfahren gegen Polizeibeamt*innen eingeleitet worden waren. Nachdem sie alle Einsatzpläne, die während der Proteste tödliche Folgen hatten, beaufsichtigt und unterzeichnet hatte, beförderte Präsidentin Boluarte den für diese Pläne verantwortlichen Polizeibeamten zum ranghöchsten Kommandeur der PNP.
«Beseitigung menschlicher Hindernisse»
Amnesty International hat die internen Einsatzpläne der PNP erhalten und untersucht. Unter anderem wurde die Polizei instruiert, nicht nur die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern hat auch vage und weitreichende Befehle wie die «Beseitigung menschlicher Hindernisse» erhalten. Zu diesem Zweck waren die Polizist*innen mit Sturmgewehren bewaffnet, und die Pläne erlaubten den Einsatzeiter*innen, den Einsatz dieser Waffen zu befehlen. Dieser breite Rahmen für tödliche Gewalt verstiess sowohl gegen peruanisches Recht als auch gegen internationale Menschenrechtsnormen, die besagen, dass Schusswaffen für die Kontrolle von Menschenmengen ungeeignet sind. Aus den Einsatzplänen ging auch klar hervor, dass die Vorgesetzten in der Befehlskette ständig informiert waren und wussten, was vor sich ging.
Bereits in den ersten Tagen führte der Polizeieinsatz zu Todesfällen. In Andahuaylas schossen am 12. Dezember 2022 Spezialkräfte der Polizei von einem Dach aus mit tödlicher Munition auf einen Hügel, wo Dutzende von Menschen eine Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstrant*innen etwa 200 Meter weiter unten beobachteten. Die Beamt*innen erschossen zwei junge Männer auf dem Hügel und verwundeten mehrere andere. Amnesty International fand heraus, dass die für den Einsatz verantwortlichen Kommandeure nur zwei Blocks vom Ort des Geschehens entfernt stationiert waren.
Obwohl sich der Einsatz von Spezialeinheiten in Andahuaylas als tödlich erwiesen hatte, setzten die Vorgesetzten in der Befehlskette dieselbe Taktik monatelang fort und versäumten es, die übermässige, unverhältnismässige und unnötige Gewaltanwendung ihrer Untergebenen zu stoppen. Einen Monat nach den ersten Todesfällen in Andahuaylas beschlossen ranghohe PNP-Befehlshaber, dieselben Chefs der Spezialeinheiten zur Überwachung der Operationen am Flughafen von Juliaca einzusetzen, wo am 9. Januar 2023 Proteste stattfanden. An diesem Tag wurden in Juliaca achtzehn Menschen getötet und über 100 verwundet.
Obwohl mehrere internationale Menschenrechtsorganisationen das Vorgehen der peruanischen Sicherheitskräfte zu diesem Zeitpunkt bereits verurteilt hatten, wurden die Operationen weitergeführt. Auch die Armee war bereits Wochen zuvor in einer anderen Stadt bei einer Operation am Flughafen von Ayacucho eingesetzt worden, bei der an nur einem Tag zehn Menschen ums Leben kamen. Dennoch beschlossen hochrangige PNP-Befehlshabende, die Armee erneut in die gemeinsame militärisch-polizeiliche Operation auf dem Flughafen von Juliaca einzubeziehen.
Die Befehlshabenden der Armee stuften die Demonstrant*innen als «feindliche Gruppen» ein.
Amnesty International analysierte auch die Befehlskette und die Einsatzpläne im Zusammenhang mit dem Einsatz des Militärs in Ayacucho. Die Befehlshabenden der Armee stuften die Demonstrant*innen als «feindliche Gruppen» ein, was zu einer kämpferischen Reaktion der Soldaten bei der Operation am 15. Dezember 2022 führte, die zehn Tote und Dutzende von Verletzten zur Folge hatte. Aufzeichnungen, die Amnesty International erhalten hat, zeigen, dass die Soldaten an diesem Tag mindestens 1200 Schüsse abfeuerten - als Reaktion auf «mündliche Befehle» von Vorgesetzten.
Aufruf zur Waffenruhe ignoriert
In Ayacucho wurde am 15. Dezember 2022 sieben Stunden lang auf unbewaffnete Demonstrant*innen und Schaulustige geschossen, obwohl die Ombudsperson für Menschenrechte den Chef der Streitkräfte und den Verteidigungsminister persönlich angerufen und zu einer Waffenruhe aufgerufen hatte.
Obwohl es zahlreiche Beweise dafür gab, dass das Vorgehen der Armee übertrieben, grob unverhältnismässig und unnötig war, erklärte Präsidentin Dina Boluarte zwei Tage nach der tödlichen Operation in Ayacucho auf einer Pressekonferenz, dass das Vorgehen der Armee rechtmässig gewesen sei. Vier Tage später beförderte sie den Verteidigungsminister an die Spitze ihres gesamten Kabinetts. In den Monaten nach dem Einsatz in Ayacucho hat die Armee lediglich interne Disziplinarmassnahmen gegen acht Soldaten wegen «geringfügiger Vergehen» ergriffen. Dies obwohl es zahlreiche Beweise dafür gab, dass die Soldaten mit Gewehren auf unbewaffnete Demonstrant*innen geschossen hatten, die in vielen Fällen wegliefen oder verwundeten unbeteiligten Personen halfen.
Die Minister*innen im Kabinett der Präsidentin haben es ebenfalls versäumt, Massnahmen zu ergreifen, um die zuständigen Personen in den Sicherheitskräften zur Rechenschaft zu ziehen. Das Innenministerium antwortete auf eine Anfrage von Amnesty International zur Informationsfreiheit und bestätigte, dass keine Disziplinarmassnahmen gegen den für die Polizeieinsätze während der sozialen Proteste verantwortlichen General eingeleitet worden waren. Amnesty International erhielt auch die Briefe des Ministers an den Generalkommandanten der Polizei bezüglich der Proteste im Januar 2023. Die 18 Menschen, die in Juliaca bei Polizeieinsätzen getötet wurden, sind dort nicht einmal erwähnt.
Verschleppte Ermittlungen
Achtzehn Monate nach den Ereignissen kommen die strafrechtlichen Ermittlungen zu den Menschenrechtsverletzungen nur langsam voran. Obwohl der Präsident und die Minister*innen mehrmals zur Befragung vorgeladen wurden, scheint die Staatsanwaltschaft nach den vorliegenden Informationen bisher nur oberflächliche Ermittlungen durchgeführt zu haben: Sie hat lediglich die Formalitäten erledigt, ohne den Tatsachen auf den Grund zu gehen. Auch die mögliche individuelle strafrechtliche Verantwortung der Präsidentin als Oberbefehlshaberin von Polizei und Streitkräften wurde bislang nicht untersucht.
Die Staatsanwaltschaft hat einige Fortschritte bei der Identifizierung mehrerer Polizei- und Militäroffiziere als Verdächtige in Strafverfahren erzielt, doch werden weiterhin wichtige Beamt*innen in der Befehlskette übersehen, insbesondere bestimmte hochrangige Kommandeure der PNP, auf die Amnesty International in ihrem Bericht hinweist.
«Peru kann nicht zulassen, dass diese schweren Menschenrechtsverletzungen ungesühnt bleiben. Viele der Opfer stammen aus indigenen- und campesino-Gemeinschaften, deren Stimmen auch in der Vergangenheit stets ignoriert wurden. Hunderten von Menschen haben Angehörige verloren oder wurden schwer verletzt. Die Verantwortlichen müssen vor Gericht gestellt werden, egal wie hochrangig sie sind», sagte Marina Navarro, Geschäftsführerin von Amnesty International Peru.