Der Bericht «Abortion in America: The U.S. Human Rights Crisis in the Aftermath of Dobbs» schildert die Geschichten von Menschen aus den USA, deren Menschenrechte seit der Aufhebung des Urteils Roe v. Wade im Jahr 2022 durch restriktive Gesetze und Praktiken in ihren Bundesstaaten verletzt werden. Neben Abtreibungsverboten und -beschränkungen in 21 Bundesstaaten führten Barrieren für die medizinische Notversorgung und Bestrebungen zur Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, die Schwangere und medizinisches Personal gleichermassen bedrohen, zu der aktuellen Menschenrechtskrise. Die Verbreitung falscher Informationen und die Stigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs sowie die unqualifizierte Betreuung durch so genannte Schwangerschaftskrisenzentren, die oft von Abtreibungsgegner*innen betrieben werden, verschärfen die Krise.
«Der Zugang zu reproduktiver Versorgung und zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen darf nicht davon abhängen, in welchem Bundesstaat jemand lebt oder ob jemand die Möglichkeit hat, in einen anderen Bundesstaat zu reisen oder nicht. Die derzeitige Situation führt dazu, dass der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch davon abhängt, wo jemand lebt, und welche finanziellen Ressourcen der Person zur Verfügung stehen. Der Zugang zu einem Menschenrecht darf nicht auf diese Art und Weise funktionieren», sagte Jasmeet Sidhu, Senior Researcher bei Amnesty International USA.
«Das Gesundheitspersonal sollte niemals in der Situation sein, den Patient*innen aufgrund einer politischen Entscheidung die nötige Behandlung nicht zukommen lassen zu können.» Dr. Amna Dermish, Gynäkologin aus Texas
Dr. Amna Dermish ist eine Gynäkologin aus Texas, die sich auf komplexe Familienplanung spezialisiert hat. In dem Bericht sagte sie: «Seit der Aufhebung des Urteils Roe v. Wade habe ich jeden Tag Panikattacken. Das Gesundheitspersonal sollte niemals in der Situation sein, den Patient*innen aufgrund einer politischen Entscheidung die nötige Behandlung nicht zukommen lassen zu können. Und was noch wichtiger ist: Kein*e Patient*in sollte jemals in einer Situation sein, in der das Gesundheitspersonal in der Lage ist, die nötige Behandlung durchzuführen, und von der Regierung daran gehindert wird.»
Kaum mehr Behandlungen
Der Bericht beleuchtet das weit verbreitete Leid und die Diskriminierung, die Menschen in den USA erfahren. Amnesty International führte ausführliche Interviews mit Schwangeren, Familien, Anwält*innen, Gesundheitsexpert*innen und Gesundheitsfachkräften in Bundesstaaten mit Abtreibungsverboten. Die erschütternden Geschichten machen deutlich, dass alle Schwangerschaften unterschiedlich sind und dass jede schwangere Person das Recht haben muss, ohne staatliche Einmischung über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden.
«Es war ein schreckliches Gefühl, dem Arzt zu erklären, dass meine Teenager-Tochter vergewaltigt wurde. Noch schrecklicher war, dass er mir sagen musste, dass er nichts tun kann, um zu helfen.» Aussage der Mutter einer betroffenen Jugendlichen
Der Bericht enthält Beispiele von Menschen, die Hunderte von Kilometern reisen mussten, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, und von anderen, die sich diese Reise nicht leisten konnten und deshalb gezwungen waren, ihre Schwangerschaft gegen ihren Willen zu Ende zu führen. Gewisse Personen waren gezwungen, ihre Schwangerschaft auszutragen, obwohl sie in der Kindheit vergewaltigt wurden, schwere fötale Anomalien auftraten oder die Gesundheit der Schwangeren gefährdet war.
«Es war ein schreckliches Gefühl, dem Arzt zu erklären, dass meine Teenager-Tochter vergewaltigt wurde. Noch schrecklicher war, dass er mir sagen musste, dass er nichts tun kann, um zu helfen», sagte eine Mutter aus Mississippi, die mehr als sieben Stunden zu einer Abtreibungsklinik in Illinois reisen und 1595 Dollar für den Schwangerschaftsabbruch ihrer Tochter sowie fast 500 Dollar für ein Hotel bezahlen musste.
Einige Schwangere vermieden es, eine*n Mediziner*in aufzusuchen, wenn sie eine Fehlgeburt hatten, weil sie befürchteten, zu Unrecht kriminalisiert zu werden. Andere erhielten keine Behandlung, weil es keine Notfallversorgung gab und die Gesundheitsdienstleister*innen befürchteten, dass auch sie kriminalisiert werden könnten, wenn sie den Patient*innen die notwendige Behandlung zukommen lassen würden.
Taylor aus Texas sagte, dass sie ihre Behandlung durch Internetrecherchen gefunden habe. «Schon die Suche machte mich nervös. Der Fall einer texanischen Frau, die wegen der Einnahme von medikamentösen Abtreibungspillen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde, war mir noch frisch im Gedächtnis... Ich hatte Angst, meinen Arzt anzurufen», sagte sie.
Jasmeet Sidhu von Amnesty USA sagte: «Einige dieser Gesetze sind äusserst verwirrend und fast unmöglich zu durchschauen. Die derzeitige Gesetzeslage ist ein Angriff auf die Rechte schwangerer Menschen, schafft Angst und Stigmatisierung, bringt das Gesundheitspersonal in schreckliche Situationen und trägt letztlich dazu bei, dass schwangere Menschen nicht die Behandlung bekommen, die sie brauchen. Wir befinden uns in einer noch nie dagewesenen Krise.»
Starke Auswirkungen auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen
Die Verbote und Einschränkungen des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch haben unverhältnismässig starke Auswirkungen auf die am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die bereits vielfältigen Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind.
«Immer wieder werden Missbrauchsopfer gezwungen, zu Hause bei ihren Partnern bleiben und ihre Schwangerschaft gegen ihren Willen auszutragen.» D'Andra Willia, Afiya Center
«Die Nachfrage nach [schwarzen] Doulas ist definitiv gestiegen, weil die Menschen gezwungen werden, zu gebären», sagte D'Andra Willia vom Afiya Center, das sich für Schwarze Mädchen und Frauen einsetzt. «Immer wieder werden Missbrauchsopfer gezwungen, zu Hause bei ihren Partnern bleiben und ihre Schwangerschaft gegen ihren Willen auszutragen.»
Eine mit Zwillingen schwangere Latina aus Texas, die in der 12. Woche erfuhr, dass bei einem der Zwillinge im Mutterleib eine tödliche Krankheit diagnostiziert worden war, die das Leben des anderen Zwillings bedrohen könnte, war gezwungen, in einen anderen Bundesstaat zu reisen, um den lebensfähigen Fötus zu retten. «Dies war die traumatischste Erfahrung meines Lebens, die durch diese unlogischen und gefährlichen Gesetze unnötig verschlimmert wurde. Diese Verbote werden den Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung noch komplizierter machen», sagte sie.
Der Bericht enthält eine ausführliche Liste von Empfehlungen für die Regierungen der Bundesstaaten und der Landesregierung. Amnesty International fordert die USA auf, internationale Menschenrechtsabkommen zu ratifizieren, die Schwangeren den Zugang zu der benötigten Gesundheitsversorgung garantieren. Zudem sollte das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch wieder auf Bundesebene geschützt werden. Der gleichberechtigte Zugang zu einem medikamentösen Schwangerschaftsabbruch und zu medizinischer Notfallversorgung sollte unverzüglich gewährleistet werden.
«Während wir auf das längerfristige Ziel hinarbeiten, das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch auf Bundesebene zu schützen, können die Menschen in einigen Bundesstaaten in diesem Herbst einen wichtigen Schritt tun, indem den Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch bei ihrer Wahl in den Vordergrund stellen», sagte Jasmeet Sidhu.