Angesichts der landesweiten Proteste und einer Zunahme von Razzien und Vollstreckungsmassnahmen durch die US-Einwanderungs- und Zollbehörde ICE warnte Präsident Trump, dass seine Regierung gegen Proteste «mit massiver Gewalt» vorgehen werde.
Als Menschenrechtsorganisation mit Erfahrung in der Beobachtung und Dokumentation von Protesten weltweit haben wir eine ganze Reihe von Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Protest erhalten. Die häufigste lautete: «Dürfen die Behörden das tun?» Hier sind unsere Antworten auf einige der meist gestellten Fragen.:
Ist Protest ein Menschenrecht?
Dürfen militärische Kräfte zur Überwachung zivilgesellschaftlicher Proteste eingesetzt werden?
Dürfen die Behörden Gummigeschosse gegen Protestierende einsetzen?
Darf die Polizei Tränengas gegen Protestierende einsetzen?
Was ist, wenn es bei Protesten zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt?
Kann sich Präsident Trump auf den «Insurrection Act» berufen?
Was macht Amnesty International?
Ist Protest ein Menschenrecht?
Mit ihrer Teilnahme an einem Protest nimmt eine Person eine Vielzahl universell anerkannter Menschenrechte wahr. Neben den Rechten auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung gehören dazu weitere Rechte, die wesentlich sind, um friedliche Proteste zu ermöglichen. Dazu gehören das Recht auf Leben, die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Privatsphäre und das Recht, nicht willkürlich festgenommen und inhaftiert zu werden sowie das Recht auf Freiheit von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.
Das Recht auf Protest ist daher nicht in einem einzigen Gesetz oder Abkommen kodifiziert, sondern wird im Rahmen internationaler Menschenrechtsnormen durch Bestimmungen geschützt, die in verschiedenen internationalen und regionalen Verträgen verankert sind und jedes dieser unterschiedlichen, aber sich gegenseitig stützenden Rechte garantieren. Sie alle zusammen bieten Protestierenden umfassenden Schutz. Die Antwort ist also: Ja, das Recht auf Protest ist ein Menschenrecht.
Dürfen militärische Kräfte zur Überwachung zivilgesellschaftlicher Proteste eingesetzt werden?
Militärkräfte sind nicht zur Überwachung von Zivilpersonen vorgesehen. Mit dem Einsatz von Streitkräften oder der Anwendung militarisierter Polizeitaktiken wird ein erschreckender Präzedenzfall geschaffen, der Spannungen verschärft, weil er eine Atmosphäre der Einschüchterung und Angst erzeugt. Dies kann zu unnötiger Gewalt und zur Unterdrückung friedlicher Proteste führen. Darüber hinaus steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen wie der exzessiven Gewaltanwendung und der willkürlichen Festnahme von Protestierenden.
Militärkräfte sind für den Krieg ausgebildet und ausgerüstet und haben bei einer Demonstration nichts zu suchen. Sie liegt in der Zuständigkeit der Polizei, die für Massnahmen zur Deeskalation, Schlichtung und den Schutz der Menschen ausgebildet sein soll. Militärangehörige sind nicht für den Umgang mit grossen Menschenmengen oder in der Deeskalation ausgebildet und sollten auch nicht für diese Zwecke eingesetzt werden. Auch ICE-Mitarbeiter*innen und andere Ordnungskräften, die mit der Durchsetzung von Einwanderungsbestimmungen betraut sind, fehlt es an der entsprechenden Ausbildung und Erfahrung. Dies hat sich vor nicht allzu langer Zeit deutlich gezeigt – man denke nur an die Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Proteste nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd.
Militärische Kräfte sind in der Regel nicht für die Wahrnehmung von Strafverfolgungsaufgaben geeignet. Sie sollten nur unter aussergewöhnlichen und vorübergehenden Umständen auf der Grundlage einer eindeutigen Bedarfsbewertung hinsichtlich ihres Mehrwerts in einer bestimmten Situation zur Wahrnehmung solcher Aufgaben eingesetzt werden. Bei einem solchen Einsatz sind sie an den für die Strafverfolgung geltenden Rechtsrahmen einschliesslich der nationalen und internationalen Menschenrechtsnormen gebunden und dürfen nur dann Strafverfolgungsaufgaben wahrnehmen, wenn sie ordnungsgemäss instruiert, ausgerüstet und geschult sind, um diesen Aufgaben auf rechtmässige, menschenrechtskonforme Weise nachzukommen. Darüber hinaus sollten sie jederzeit einer zivilen Führung, Kontrolle und Aufsicht unterstehen.
Im Fall von Los Angeles geht es Präsident Trump bei der Mobilisierung der Nationalgarde und der US-Marines jedoch nicht um die öffentliche Sicherheit, sondern darum, Angst zu schüren und abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen.
Dürfen die Behörden Gummigeschosse gegen Protestierende einsetzen?
Gummi- und Schaumstoffgeschosse dürfen nur als letztes Mittel im Falle einer unmittelbaren, schweren Gefahr eingesetzt werden. In den USA wird der Einsatz von Gummigeschossen zur Unterdrückung friedlicher Proteste jedoch immer häufiger.
Amnesty International hat in den USA und weltweit zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen der Missbrauch von Gummi- und Schaumstoffgeschossen zu schweren Verletzungen und Todesfällen bei Demonstrierenden geführt hat. Diese Waffen werden häufig wahllos, auf die Köpfe von Personen oder auch aus nächster Nähe abgefeuert, was zu dauerhaften Behinderungen wie Blindheit, zu Schädelfrakturen und inneren Verletzungen führt.
Darf die Polizei Tränengas gegen Protestierende einsetzen?
Tränengas oder andere chemische Reizstoffe sollten niemals gegen Menschen eingesetzt werden, die friedlich protestieren.
Man will uns glauben machen, dass es sich bei Tränengas um eine sichere Methode zur Auflösung gewalttätiger Proteste handelt. Viele Sicherheitskräfte sind mittlerweile mit Tränengas als sogenannter weniger tödlicher Ausrüstung ausgestattet – Waffen, die als Alternative zu Schusswaffen dienen. Diese Waffen werden deshalb als «weniger tödlich» und nicht als «nicht tödlich» bezeichnet, weil sie zwar nicht zum Töten gedacht sind, ihre Wirkung aber trotzdem tödlich sein kann. Die Ausstattung mit Tränengas kann zwar bedeuten, dass die Polizei nicht auf den Einsatz schädlicherer Waffen zurückgreifen muss. In der Praxis setzen Polizeikräfte Tränengas jedoch auf eine Weise ein, für die es nie vorgesehen war, und zwar oft in grossen Mengen gegen weitgehend friedliche Demonstrierende, indem sie Geschosse direkt auf Menschen abfeuern oder indem sie Tränengas in engen Räumen oder in Situationen einsetzen, in denen es den Menschen nur schwer möglich ist, sich zu zerstreuen.
In manchen Fällen kann der Einsatz von chemischen Reizstoffen zu schweren Verletzungen führen oder den Tatbestand von Folter oder anderer Misshandlung erfüllen. Nähere Informationen zu unseren Recherchen über Tränengas finden sich hier.
Was ist, wenn es bei Protesten zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt?
Die Gewalt einiger weniger Personen sollte nie dazu führen, dass gegen das Recht friedlicher Protestierender auf Versammlungsfreiheit verstossen wird. Wenn eine kleine Minderheit versucht, eine friedliche Versammlung gewaltsam eskalieren zu lassen, sollten Ordnungskräfte friedliche Demonstrant*innen schützen und die Ausschreitungen einiger kleiner Gruppen nicht als Vorwand nutzen, um die Ausübung der Menschenrechte einer Mehrheit einzuschränken oder sie zu verhindern. Menschen, die andere Menschen über ihre Rechte aufklären oder friedlich Massnahmen zur Durchsetzung von Einwanderungsbestimmungen stören, sind nicht per se gewalttätig. Diese Handlungen fallen unter das Recht der Menschen auf Protest.
Wenn eine kleine Gruppe innerhalb eines grösseren, friedlicheren Protests Gewalttaten und Vandalismus begeht, kann die Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Organisierenden des Protests Ordnungskräften helfen, jene zu identifizieren, die Gewalttaten begehen, um diese gezielt herauszusuchen.
Die Entscheidung zur Auflösung einer Versammlung sollte nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit getroffen werden, um die öffentliche Ordnung vor einem drohenden Gewaltrisiko zu schützen. Wenn ein (rechtmässiger) Beschluss zur Auflösung einer Versammlung gefasst wurde, muss die Auflösungsanordnung klar kommuniziert und begründet werden, um sich weitestmöglich des Verständnisses und der Zustimmung der Demonstrierenden zu versichern. Es muss genügend Zeit für die Auflösung des Protests gewährt werden.
Es sollte keine Gewalt eingesetzt werden, um die (vermeintliche oder unterstellte) Nichteinhaltung einer Anordnung oder auch die Teilnahme an einer Versammlung zu bestrafen. Festnahmen und Inhaftierungen sollten in Übereinstimmung mit den gesetzlich vorgesehenen Verfahren erfolgen. Sie dürfen nicht als Mittel dienen, um die friedliche Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung zu verhindern oder diese zu bestrafen.
Kann sich Präsident Trump auf den «Insurrection Act» berufen?
Der Insurrection Act von 1807 würde den Einsatz von US-Soldat*innen zur sogenannten «Durchsetzung der Einwanderungsbestimmungen» oder zur Unterdrückung von Protesten ermöglichen. Bei der Berufung auf dieses Notstandsgesetz geht es jedoch nicht um die nationale Sicherheit, sondern um die Konsolidierung der Macht, das Erzeugen von Angst und die Einschüchterung von Gemeinschaften im ganzen Land sowie um die Unterdrückung abweichender Meinungen.
Präsident Trump hat von Anfang an eine gefährliche und falsche Rhetorik benutzt, darunter die rassistische Lüge, an der südlichen Grenze der USA fände eine «Invasion» statt. Es gibt keine Invasion. Es gibt keinen Krieg. Bei den Einwanderer*innen und Schutzsuchenden handelt es sich um unsere Familien, Freund*innen und Nachbar*innen; sie machen unsere Gemeinschaften bunter, und sie kommen auf der Suche nach Sicherheit, Schutz und einem besseren Leben in die USA.
Die lange und kontroverse Geschichte des Insurrection Act ist eng mit der Unterdrückung versklavter Personen, der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung und Bürgerrechtsbewegungen verbunden. Er wurde letztmalig 1992 eingesetzt, als es nach dem Freispruch von Polizist*innen im Fall Rodney King in Los Angeles zu Unruhen kam. Mit seinem aktuellen Einsatz wird an dieses Vermächtnis der Anwendung staatlicher Gewalt gegen marginalisierte Gemeinschaften angeknüpft.
Was macht Amnesty International?
Amnesty International beobachtet diese Proteste und die Reaktion von bundesstaatlichen Behörden und der US-Regierung. Unser Team aus Sachverständigen verbindet einzelne Zeug*innenaussagen mit Standortdaten, Fotos und Videos aus Nachrichtenquellen und Sozialen Medien sowie Erkenntnissen aus Fernerkundung, Crowdsourcing und Data Science, um Menschenrechtsverletzungen nachzugehen und die Wahrheit herauszufinden.
Nach den Black-Lives-Matter-Protesten im Jahr 2020 hat Amnesty International 125 separate Vorfälle von Polizeigewalt gegen Demonstrierende in 40 Bundesstaaten und in Washington D.C. dokumentiert, die von Angehörigen staatlicher und lokaler Polizeibehörden sowie von Angehörigen der Nationalgarde und Sicherheitskräften mehrerer Bundesbehörden allein in den ersten zehn Tagen nach der Festnahme, Folterung und aussergerichtlichen Hinrichtung von George Floyd durch Polizeibeamte aus Minneapolis begangen wurden. Zu den dokumentierten Menschenrechtsverstössen gehörten Schläge, der missbräuchliche Einsatz von Tränengas und Pfefferspray und der unangemessene und teils wahllose Abschuss von «weniger tödlichen» Projektilen wie Schaumstoff- und Gummigeschossen gegen Protestierende, Journalist*innen, juristische Beobachter*innen und Rettungssanitäter*innen.
Im Rahmen dieser Bemühungen haben wir alle Strafverfolgungsbehörden aufgefordert, ihre Richtlinien und Praktiken für die polizeiliche Bekämpfung von Protesten zu überarbeiten und die internationalen Menschenrechtsstandards einzuhalten. Dazu haben wir ein Dokument mit Bewährten Praktiken für Ordnungskräfte auf Demonstrationen veröffentlicht.
Was kannst du tun?
Das Recht auf friedlichen Protest ist ein Menschenrecht. Aber aktuell geht es um mehr als nur einen Protest. Es geht darum, dass wir nicht zulassen, dass die Angst uns zum Schweigen bringt. Es geht darum, das Asylrecht zu verteidigen und unsere Nachbar*innen vor Razzien der US-Einwanderungsbehörde ICE und vor der massenhaften Inhaftierung zu schützen. Es geht darum, die Massnahmen zurückzuweisen, mit denen diese Regierung die Polizeiarbeit militarisieren will, um abweichende Meinungen zu unterdrücken.
Wir müssen jetzt handeln, um das Recht auf friedlichen Protest zu verteidigen und zu verhindern, dass diese Menschenrechtsverstösse zur neuen Normalität werden. Wenn es dir gefahrlos möglich ist, schliesse dich einem Protest in deiner Stadt an. Nutze deine Stimme. Nimm andere mit! Teile dieses Q&A mit Freund*innen und Familie, und sprich über das Recht auf Protest, Razzien der US-Einwanderungsbehörde und das, was Amnesty macht.