«Die Behörden unter Nicolás Maduro versuchen mit einer verabscheuungswürdigen Politik der Angst und Bestrafung soziale Kontrolle über diejenigen auszuüben, die in Venezuela einen Regierungswechsel fordern. Maduros Regierung geht gegen die ärmsten Menschen im Land vor. Statt sie zu schützen – wie er behauptet –, bedroht, inhaftiert und ermordet die Regierung diese Menschen», kritisierte Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Amerikas bei Amnesty International.
Im Visier der Repression waren demnach insbesondere Bewohner von Armenvierteln, die an den Protesten vom 21. und 25. Januar teilgenommen hatten.
Venezuela steckt seit Jahren in einer schweren Menschenrechtskrise. Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten, die Hyperinflation, Gewalt und politische Unterdrückung haben seit 2015 mehr als drei Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner zur Flucht gezwungen.
Angesichts dieser düsteren Realität gehen Tausende auf die Strasse und fordern einen Regierungswechsel. Zwischen dem 21. und 25. Januar kam es zu zahlreichen Demonstrationen. Viele dieser Proteste fanden in den verarmten Stadtteilen statt, in denen die Forderung nach einem Regierungswechsel bis dahin nicht so sichtbar geworden war wie an anderen Orten. In diesen Gegenden hängen die Bewohner zu einem Grossteil von den zurzeit eingeschränkten staatlichen Nahrungsmittelprogrammen ab und gerade dort sind die Colectivos – bewaffnete zivile Gruppen, die Nicolás Maduro unterstützen – überall präsent.
Dutzende Tote, über 900 Festnahmen
Bei den Protesten starben in nur fünf Tagen mindestens 41 Menschen – alle an Schusswunden. Mehr als 900 Menschen wurden willkürlich festgenommen und allein am 23. Januar – dem Tag der landesweiten Demonstrationen – wurden 770 willkürliche Festnahmen gemeldet.
Die Recherchen von Amnesty International in den Bundesstaaten Lara, Yaracuy, Vargas sowie mehreren Stadtteilen von Caracas bringen ein typisches Muster zutage: Sie zeigen, dass die Behörden der Bundesstaaten zur Kontrolle der Bevölkerung selektiv aussergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt haben.
Dabei wurde vor allem die Spezialeinheit FAES (Fuerza de Acciones Especiales) der Nationalpolizei PNB (Policía Nacional Bolivariana) gegen Personen eingesetzt, die sich auf irgendeine Weise an den Protesten beteiligten. Die verarmten Stadtteile von Caracas und andere wirtschaftlich benachteiligte Gegenden im Land sind von dieser Gewalt besonders betroffen. Die Zahl der Opfer ist hier am höchsten und diese werden nun auch noch diffamiert, indem die Toten als «Kriminelle» hingestellt werden, die bei Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften zu Tode kamen.
Aussergerichtliche Hinrichtungen
Amnesty International hat sechs aussergerichtliche Hinrichtungen durch die FAES an verschiedenen Orten im ganzen Land dokumentiert. Die Opfer standen mit den Protesten in Verbindung, die in den Vortagen stattgefunden hatten, und die Kritik, die sie an Nicolás Maduro geäussert hatten, war in den Sozialen Medien verbreitet worden. In allen sechs Fällen wurde ähnlich vorgegangen: Alle sechs Opfer waren junge Männer und die Behörden sagten über sie, dass sie bei Zusammenstössen mit der FAES zu Tode gekommen seien. Die FAES manipulierte die Tatorte und stellte die Opfer als Kriminelle dar. Sie liess verlauten, dass mehrere von ihnen schon vorher straffällig geworden seien und versuchte damit, ihren Tod zu rechtfertigen.
«Wie wir schon viele Male in Venezuela gesehen haben, möchten die Behörden uns weismachen, dass diejenigen, die während der Proteste zu Tode gekommen sind – hauptsächlich junge Menschen aus Gegenden mit geringem Einkommen – Kriminelle waren. Doch ihr einziges Verbrechen war, dass sie es wagten, eine Veränderung und ein Leben in Würde einzufordern», kommentierte Erika Guevara-Rosas.
Bedroht und ermordet
Luis Enrique Ramos Suárez war 29 Jahre alt, als ihn Angehörige der FAES am 24. Januar in der Stadt Carora aussergerichtlich hinrichteten. Am Tag zuvor war eine Audio-Nachricht in den Sozialen Medien verbreitet worden, in der Proteste gegen Nicolás Maduro und das Büro des Bürgermeisters von Carora angekündigt worden waren. In dieser Audio-Nachricht wurde Luis Enrique Ramos Suárez unter seinem Spitznamen als einer der Organisatoren genannt.
Am 24. Januar durchsuchten 20 schwer bewaffnete und überwiegend maskierte Angehörige der FAES rechtswidrig den Haushalt der Familie Ramos Suárez und misshandelten zehn anwesende Familienmitglieder, darunter sechs Kinder. Nachdem sie Luis Enrique Ramos Suárez unter seinem Spitznamen identifiziert hatten, liessen sie ihn in der Mitte des Raums knien. Ein FAES-Angehöriger machte Fotos und andere schlugen ihn.
Sie sperrten die anderen Familienmitglieder in separate Zimmer des Hauses, bedrohten sie und schlugen sie auf verschiedene Körperteile. Dann zwangen sie die Familie, das Haus zu verlassen, und brachten sie mit mehreren Fahrzeugen der Nationalpolizei an einen Ort in zwei Kilometer Entfernung. Wenige Minuten danach schossen sie Luis Enrique Ramos Suárez zweimal in die Brust. Er war auf der Stelle tot.
Gemäss Zeugenaussagen feuerten FAES-Angehörige nach der Hinrichtung von Luis Enrique Ramos Suárez im Haus ihre Waffen ab, um einen Schusswechsel vorzutäuschen. Die FAES-Angehörigen konstruierten Beweismittel und manipulierten darüberhinaus auch den Tatort, indem sie den Leichnam zu einem Fahrzeug zogen und ihn darin schliesslich zum Leichenschauhaus brachten. Mit diesem Vorgehen verstiessen sie gegen jede Regel einer kriminaltechnischen Untersuchung.
Nationalpolizei schoss wahllos auf Demonstranten
Amnesty International dokumentierte ausserdem, dass die Sicherheitskräfte zwei junge Männer erschossen, die an den Protesten teilgenommen hatten. Ein weiterer wurde angeschossen. Sowohl die PNB als auch die Bolivarische Nationalgarde GNB (Guardia Nacional Bolivariana) waren an solchen Operationen beteiligt.
Der 19-jährige Bäcker Alixon Pizani starb am 22. Januar an einer Schussverletzung in der Brust, als er im westlich von Caracas liegenden Catia mit einer Gruppe von Freunden an den Protesten teilnahm. Augenzeugen berichteten später, wie ein Beamter in einer PNB-Uniform von einem Motorrad aus wahllos in die Menge schoss und so zwei Aktivisten schwer verletzte.
Nachdem Alixon Pizani getroffen wurde und keine Ambulanz kam, brachten ihn seine Freunde in ein Gesundheitszentrum. Kurz darauf starb er dort. Seine Familie berichtete, dass Angehörige der Spezialeinheit FAES am Spitaleingang auf sie und Alixon Pizanis Freunde schossen. Sie hätten sich sofort im Inneren des Gebäudes in Sicherheit gebracht. Bisher weist nichts darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet hat.
Willkürliche Inhaftierungen
Nach Angaben der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Foro Penal haben die Behörden zwischen dem 21. und 31. Januar im gesamten Land 137 Kinder und Jugendliche festgenommen. Dazu gehört ein von Amnesty International dokumentierter Fall, bei dem sechs Personen, darunter vier Teenager, am 23. Januar festgenommen wurden. Sie hatten an einer Protestveranstaltung teilgenommen bzw. einfach aus der Nähe zugeschaut.
In einem Interview mit Amnesty International gaben sie an, bei der Festnahme von Sicherheitskräften geschlagen und als «guarimberos» (Protestierende, die Gewalt einsetzen) und «Terroristen» beschimpft worden zu sein. Ausserdem habe man sie Reizmitteln ausgesetzt, sie am Schlafen gehindert und gedroht, sie zu töten. Sie erzählten, dass die Beamte, die sie festgenommen hatten, verschiedenen Sicherheitskräften des Bundesstaates angehörten und von Personen in Zivil begleitet wurden.
Misshandlung und Folter von Jugendlichen
«Dass über 100 Jugendliche festgenommen und einer grausamen Behandlung unterzogen wurden, die zum Teil Folter darstellte, zeigt, wie weit die Behörden bereit sind zu gehen, um die Proteste zu stoppen und die Bevölkerung zu unterdrücken», sagte Erika Guevara-Rosas.
Den vier Teenagern werden Straftaten vorgeworfen, die nach venezolanischem Recht nicht mit Haft geahndet werden, trotzdem hat ein Gericht acht Tage Haft verfügt. Vier Tage davon mussten sie in einem Rehabilitationszentrum für Minderjährige verbringen –einer Militäreinrichtung, in der ihnen der Kopf kahlgeschoren wurde und sie gezwungen wurden Lieder wie „Wir sind Chavez‘ Kinder“ zu singen.
Am 29. Januar erklärte eine der für diese Fälle zuständige Richterin, man habe sie angewiesen, die Minderjährigen in Haft zu halten, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gab. Nachdem sie diese Erklärung abgegeben hatten, wurde sie entlassen und verliess das Land. Den vier Jugendlichen droht nun ein Gerichtsverfahren, und ihre Freiheitsrechte sind nach wie vor eingeschränkt.
Die Jugendlichen haben erläutert, wie frustrierend es für sie ist, in ihrem Alter in einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisensituation zu leben, und dass lernen, essen und sich zu kleiden eine tägliche Herausforderung darstellen. Einige denken darüber nach, Venezuela zu verlassen und in einem anderen Land eine bessere Zukunft zu finden.
Forderungen nach internationaler Strafverfolgung
Die venezolanischen Behörden müssen ihre in den vergangenen Jahren entwickelten Repressionsmassnahmen beenden und ihre Verpflichtung erfüllen, allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen unter dem Völkerrecht Gerechtigkeit, Wahrheit und Entschädigungen zu gewähren.
«Das venezolanische Justizwesen scheint die Opfer von Menschenrechtsverletzungen komplett im Stich zu lassen. Die wenigen Menschen, die den Mut haben, Anzeige zu erstatten und Beschwerden einzureichen, erhalten keine Unterstützung und bringen sich sogar in Gefahr», sagt Erika Guevara-Rosas.
Amnesty International fordert den Uno-Menschenrechtsrat auf, Massnahmen zu ergreifen, um die in Venezuela herrschende Straflosigkeit zu beenden. Dazu sollte ein unabhängiges Untersuchungsgremium eingerichtet werden, das die Menschenrechtslage in dem Land beobachtet und darüber Bericht erstattet.
Darüber hinaus sollte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs diese Fakten prüfen und wenn diese als begründet bewertet werden, in die Voruntersuchungen aufzunehmen, die derzeit zu Venezuela laufen.
Schliesslich sollten die Staaten, denen die Menschenrechtslage in Venezuela ein Anliegen ist, prüfen, ob sie das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit anwenden wollen, damit Betroffenen, denen der Zugang zur Gerechtigkeit in ihrem eigenen Land verwehrt ist, dieser alternative Weg ermöglicht wird.
«Die internationale Gerichtsbarkeit ist die einzige Hoffnung für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen in Venezuela. Jetzt müssen alle verfügbaren Mechanismen eingesetzt werden, um weitere Gräueltaten zu verhindern», erklärt Erika Guevara-Rosas.