Symbolbild (nach Ablauf der Bildrechte vom Originalbild) © pixabay / Erika Wittlieb
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Afghanistan Kriegsverbrechen und endloses Blutvergiessen

Medienmitteilung 13. Dezember 2021, London/Bern – Medienkontakt
Im Kampf um die Vorherrschaft in Afghanistan wurden im ersten Halbjahr 2021 Tausende Zivilist*innen getötet. Die Taliban verübten vor dem Fall Kabuls diverse Kriegsverbrechen, doch auch das US-Militär und die afghanischen Streitkräfte waren für Angriffe verantwortlich, die zu grossem Leid unter der Zivilbevölkerung führten.

Der Bericht No Escape: War Crimes and Civilian Harm During The Fall Of Afghanistan To The Taliban dokumentiert Folter, aussergerichtliche Hinrichtungen und Tötungen durch die Taliban vor dem Sturz der Regierung im August 2021. Die Menschenrechtsorganisation zeigt ausserdem auf, dass auch Boden- und Luftoperationen der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte (Afghan National Defense and Security Forces ANDSF) und des US-Militärs zahlreiche zivile Opfer forderten.

«Die Monate vor dem Zusammenbruch der Regierung in Kabul waren geprägt von zahlreichen Kriegsverbrechen und endlosem Blutvergiessen durch die Taliban. Doch auch durch afghanische und US-Streitkräfte kamen Zivilpersonen zu Tode», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. «Unsere neuen Belege zeigen, dass der nahtlose Machtwechsel nie stattgefunden hat, von dem die Taliban sprechen. Vielmehr hat die afghanische Bevölkerung wieder einmal mit Menschenleben bezahlt. Häuser, Spitäler, Schulen und Geschäfte wurden zu Tatorten, an denen zahlreiche Menschen verletzt und getötet wurden.. Die afghanische Bevölkerung hat zu lange gelitten. Die Opfer müssen jetzt Zugang zur Justiz erhalten und entschädigt werden.»

Nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 1659 Zivilpersonen getötet und 3524 verletzt. Dies ist ein Anstieg von 47 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Gezielte Tötungen von ethnischen Minderheiten

Amnesty International recherchierte vom 1. bis 15. August 2021 vor Ort in Kabul. Darüber hinaus führte die Menschenrechtsorganisation von August bis November 2021 Interviews mit Opfern und Zeug*innen mittels sicherer Video- und Sprachanrufe durch. Die Menschenrechtsorganisation hat in Kabul 65 Personen persönlich befragt und weitere 36 Personen aus insgesamt zehn Provinzen über verschlüsselte mobile Anwendungen. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International überprüfte ausserdem Satellitenbilder, Videos und Fotos sowie medizinische und ballistische Informationen und befragte Expert*innen.

Im Zuge ihrer fortschreitenden Offensive im Juli und August 2021 folterten und töteten Mitglieder der Taliban bei Vergeltungs-anschlägen Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, ehemalige Soldaten der afghanischen Streitkräfte sowie Personen, die als Sympathisant*innen der Regierung galten.

Im Zuge ihrer fortschreitenden Offensive im Juli und August 2021 folterten und töteten Mitglieder der Taliban bei Vergeltungsanschlägen Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, ehemalige Soldaten der afghanischen Streitkräfte sowie Personen, die als Sympathisant*innen der Regierung galten. Das gesamte Ausmass der Tötungen im ganzen Land ist noch nicht bekannt, da die Taliban in vielen ländlichen Gebieten den Mobilfunk unterbrochen und den Internetzugang stark eingeschränkt haben.

Am 6. September 2021 griffen Taliban-Kräfte die Stadt Bazarak in der Provinz Panjshir an. Nach einem kurzen Gefecht wurden etwa 20 Männer von den Taliban gefangen genommen und zwei Tage lang festgehalten, wobei sie zeitweise in einem Taubenschlag eingesperrt waren. Sie wurden gefoltert, erhielten keine Nahrung, kein Wasser und keine medizinische Versorgung. Wiederholt wurde ihnen mit der Hinrichtung gedroht. 

Später am selben Tag griffen die Taliban auch das nahe gelegene Dorf Urmaz an, wo sie Hausdurchsuchungen durchführten, um Personen ausfindig zu machen, die verdächtigt wurden, für die ehemalige Regierung zu arbeiten. Die Taliban richteten innerhalb von 24 Stunden mindestens sechs zivile Männer außergerichtlich hin, hauptsächlich durch Schüsse in den Kopf, die Brust oder das Herz. Solche Tötungen stellen Kriegsverbrechen dar.

Amnesty International hat bereits früher Massaker der Taliban an ethnischen Hazaras in den Provinzen Ghazni und Daykundi dokumentiert.

Bomben und Mörserangriffe auf dicht besiedeltes Gebiet

Der Bericht von Amnesty International dokumentiert zudem vier Luftangriffe, von denen drei höchstwahrscheinlich von US-Streitkräften und einer von der afghanischen Luftwaffe durchgeführt wurden. Bei den Angriffen wurden insgesamt 28 Zivilpersonen getötet (20 Erwachsene und acht Kinder) und sechs weitere verletzt. Sämtliche Angriffe hatten den Tod von Zivilpersonen zur Folge, da die USA ihre Bomben in dicht besiedelten Gebieten abwarfen. Amnesty International hat bereits in zahlreichen anderen Konflikten ähnliche Auswirkungen von schweren Sprengstoffwaffen dokumentiert und setzt sich auf politischer Ebene für ein Eindämmung des Einsatzes dieser Waffen ein.

Ausserdem werden in dem Bericht acht Fälle von Bodenkämpfen aufgeführt, bei denen insgesamt zwölf Zivilpersonen getötet (sechs Erwachsene und sechs Kinder) und 15 weitere verletzt wurden. Aus Nachlässigkeit und unter Missachtung der Gesetze führten die von den USA ausgebildeten Sicherheitskräfte der afghanischen Armee häufig Mörserangriffe durch, bei denen Wohnhäuser beschädigt oder zerstört und Zivilpersonen getötet wurden, die sich dort versteckten. Der wahllose Einsatz von Mörsern in bewohnten Gebieten kann ein Kriegsverbrechen darstellen.

Der wahllose Einsatz von Mörsern in bewohnten Gebieten kann ein Kriegsverbrechen darstellen.

Mehrere Familienangehörige von Opfern militärischer Angriffe berichteten Amnesty International, dass sie von der Regierung bisher keine oder nur unzureichende Entschädigung erhalten hätten. Die Verantwortlichen für begangene Verbrechen müssen in fairen Verfahren und ohne Rückgriff auf die Todesstrafe vor reguläre Zivilgerichte gestellt werden.

Amnesty International fordert die Taliban und die US-Regierung auf, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen und klare und stabile Mechanismen für die Beantragung von Wiedergutmachungsleistungen für Zivilpersonen einzurichten. «Die Taliban-Behörden haben nun die gleiche rechtliche Verpflichtung zur Wiedergutmachung wie die frühere Regierung. », sagte Agnès Callamard.

Amnesty International appelliert zudem an den Internationalen Strafgerichtshof, die Ermittlungen zu US-amerikanischen und afghanischen Militäroperationen wieder aufzunehmen. Der Strafgerichtshof muss allen Hinweisen zu möglichen Kriegsverbrechen nachgehen, egal zu wem sie führen.