In den vergangenen Monaten haben die Taliban zahlreiche Frauenrechtler*innen, Akademiker*innen und Aktivist*innen rechtswidrig inhaftiert. Viele wurden willkürlich festgenommen, ohne Rechtsbehelf oder Zugang zu ihren Angehörigen. Vermutlich wurden sie inhaftiert, weil sie öffentlich die Politik der Taliban kritisiert haben. Amnesty International fordert den Uno-Menschenrechtsrat auf, so rasch als möglich einen unabhängigen Ermittlungsmechanismus einzurichten, der Beweise für Menschenrechtsverstösse sichern soll.
«Die Menschenrechtslage in Afghanistan verschlechtert sich rasant, Tag für Tag werden neue Menschenrechtsverstösse durch die Taliban bekannt.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Die Menschenrechtslage in Afghanistan verschlechtert sich rasant, Tag für Tag werden neue Menschenrechtsverstösse durch die Taliban bekannt», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. «In letzter Zeit wurden Personen, die sich in der Öffentlichkeit kritisch über die missbräuchlichen Vorschriften der Taliban geäussert haben, ohne Angabe von Gründen festgenommen. Ausserdem schränkten die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen weiter ein und töteten gezielt Angehörige der ethnischen Hazara, ohne dafür belangt zu werden. Es ist offensichtlich, dass die Taliban weder bereit noch imstande sind, die schweren Menschenrechtsverletzungen durch ihre Mitglieder zu untersuchen.»
«Der Uno-Sonderberichterstatter leistet unter extrem schwierigen Bedingungen wertvolle Arbeit. Doch die Herausforderungen sind gewaltig. Es muss mehr getan werden, um die Menschenrechtsverstösse in Afghanistan zu dokumentieren. Dazu muss dringend eine Untersuchungsmission eingerichtet werden, die sich auf das Sammeln und Sichern von Beweisen konzentriert.»
Beweise für künftige Strafverfahren sichern
In einer neuen öffentlichen Stellungnahme fordert Amnesty International die Schaffung einer Ermittlungsmission oder eines unabhängigen Untersuchungsmechanismus, ähnlich wie die bereits bestehenden in Ländern wie Äthiopien, Iran und Myanmar. Ein solcher Mechanismus sollte mit einem mehrjährigen Mandat sowie ausreichenden Mitteln ausgestattet werden, um Beweise für die im ganzen Land verübten Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und zu dokumentieren. Ziel muss es sein, Verantwortliche zu identifizieren und eine künftige Strafverfolgung im Rahmen der internationalen Gerichtsbarkeit zu ermöglichen.
Ein solcher Mechanismus ist unerlässlich, damit Verbrechen nach dem Völkerrecht und Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan nicht der internationalen Kontrolle entgehen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Verantwortlichen in Gerichtsverfahren vor ordentlichen Zivilgerichten oder internationalen Strafgerichten zur Rechenschaft gezogen werden können.
Jüngste Festnahmewelle
Nachdem die Taliban im August 2021 die Kontrolle über Afghanistan übernommen hatten, erklärten sie, die Menschenrechte in Afghanistan wahren und respektieren zu wollen. Amnesty International hat jedoch seither wiederholt von Taliban verübte Verbrechen gegen das Völkerrecht sowie Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.
Zu den jüngst Festgenommenen zählen: die Frauenrechtlerin Narges Sadat, Professor Ismail Mashal, ein Verfechter von Bildung für Frauen, der Bürgerrechtler Fardin Fedayee, der Autor und Aktivist Zekria Asoli, der afghanisch-französische Journalist Mortaza Behboudi, der frühere Senator Qais Khan Wakili und der afghanische Journalist Muhammad Yar Majroh.
Laut aktuellem Stand geht Amnesty International davon aus, dass lediglich Professor Mashal inzwischen wieder freigekommen ist. Bei vielen Inhaftierungen gibt es keine Informationen über den Grund für die Festnahme der betreffenden Personen, und deren Aufenthaltsort bleibt häufig unbekannt, was dem Verbrechen des Verschwindenlassens gleichkommt.
Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat Fotos und Videos von mindestens acht Vorfällen authentifiziert, auf denen zu sehen ist, wie grosse Gruppen von Männern in Pandschschir willkürlich von den Taliban festgenommen und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden.
Neue Beweise für Verbrechen in Pandschschir
In der Provinz Pandschschir dauern die Menschenrechtsverstösse gegen die Zivilbevölkerung an. Bei den Kämpfen zwischen den Taliban und der Nationale Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) kommt es unter anderem zu Entführungen und Verschwindenlassen von Zivilpersonen. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat Fotos und Videos von mindestens acht Vorfällen authentifiziert, die zwischen Mai und August 2022 in den Sozialen Medien gepostet worden waren und auf denen zu sehen ist, wie grosse Gruppen von Männern in Pandschschir willkürlich von den Taliban festgenommen und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden. Insgesamt zeigen diese Videos mindestens 87 Personen in verschiedenen Stadien des Inhaftierungsprozesses, die meisten von ihnen mit gefesselten Händen. In einem Video erklärt ein Kämpfer der Taliban: «Wenn es nach mir ginge, würde ich sie gleich hier töten.»
Zeug*innen berichteten, wie die Taliban nach Zusammenstössen mit der NRF in Pandschschir Zivilpersonen festnahmen. Ein Zeuge sagte zu Amnesty International: «Von der Moschee aus verkündeten sie über Lautsprecher, dass sie ein Treffen abhalten. Als sie [die Männer] sich versammelt hatten, fesselten sie ihnen die Hände mit ihren Taschentüchern. Sie schlugen mit den Gewehrkolben auf Menschen ein. Sie nahmen Menschen fest, die nicht einmal ein Messer hatten. Die Taliban hatten einen Monat zuvor alle ihre Waffen eingesammelt. Das Dorf Dan-i-Rivat besteht aus etwa 50 Häusern. All diese Männer [die sich versammelt hatten] wurden mitgenommen.»
Repression gegen Frauen und Mädchen sowie Angriffe auf ethnische Minderheiten
Amnesty International hat in drei Fällen Massentötungen von Hazara durch Taliban-Kämpfer untersucht, die Kriegsverbrechen gleichkommen könnten; und zwar in den Provinzen Ghazni, Ghor und Daikondi. In allen drei Fällen haben die De-facto-Behörden der Taliban weder Ermittlungen eingeleitet noch Tatverdächtige zur Rechenschaft gezogen.
In einem im Juli 2022 veröffentlichten Bericht dokumentierte Amnesty International, wie die brutalen Übergriffe der Taliban das Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan zerstört. Seit die Taliban im August 2021 die Kontrolle über das Land übernommen haben, haben sie das Recht von Frauen und Mädchen auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit verletzt. Das Schutz- und Unterstützungssystem für Frauen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, wurde massiv reduziert und Frauen und Mädchen wuden wegen geringfügiger Nichteinhaltung diskriminierender Vorschriften inhaftiert. Zudem sind die Taliban für einen Anstieg der Zahl von Kinder-, Früh- und Zwangsehen in Afghanistan mitverantwortlich.
Im November 2022 nahmen die Taliban willkürlich drei prominente Menschenrechtsverteidigerinnen wegen ihres friedlichen Engagements fest – Zarifa Yaqoobi, Farhat Popalzai und Humaira Yusuf sowie deren Kolleg*innen. Im Dezember 2022 hinderten die Taliban Frauen daran, Universitäten zu besuchen, und wiesen sämtliche einheimischen und ausländischen NGOs an, «bis auf Weiteres» keine weiblichen Mitarbeitenden mehr zu beschäftigen. Laut den Vereinten Nationen und humanitären Hilfsorganisationen wird Millionen Frauen und Kindern die humanitäre Hilfe entzogen, wenn dieses Verbot gegenüber den NGOs nicht unverzüglich aufgehoben wird.