In einer breit angelegten Befragung von mehr als 150 Akteur*innen, afghanische Menschenrechtsverteidiger*innen, Akademiker*innen, Demonstrant*innen, junge Menschen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Journalist*innen, dokumentiert Amnesty International die Frustration der Menschen über die Reaktion der internationalen Gemeinschaft sowie ihre Befürchtungen und Vorschläge für die Zukunft.
«Wir haben mit Menschen gesprochen, die einen Querschnitt der afghanischen Gesellschaft in der ganzen Welt repräsentieren. Sie sind mit überwältigender Mehrheit der Meinung, dass die internationale Gemeinschaft die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen hat. Sie hat die Taliban weder für die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen, noch eine Strategie entwickelt, um weiteren Schaden zu verhindern», sagte Samira Hamidi, Kampagnenleiterin für die Region Südasien bei Amnesty International.
Mehr als zwanzig afghanische Menschenrechtsverteidiger*innen, die in 21 Provinzen Afghanistans leben, berichteten Amnesty International, dass sie in jedem Aspekt ihres Lebens ihre Handlungsfähigkeit verloren haben. Die Frauen, mit denen Amnesty International gesprochen hat, waren früher in verschiedenen Bereichen wie Justiz, Politik, Journalismus, Bildung, und Sport tätig. Nach drei Jahren unter der Herrschaft der Taliban haben sie alle das Gefühl, «niemand» mehr zu sein und kaum Möglichkeiten der Beschäftigung zu haben oder einen wirtschaftlichen oder kulturellen Beitrag leisten zu können.
Auch Personen im Exil, darunter Geflüchtete in den USA, Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien, der Schweiz, Italien, Kanada und Pakistan, berichteten Amnesty International von massiven Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land und der Auslöschung der Zivilgesellschaft.
Öffentliche Auspeitschungen, Folter und Hinrichtungen
Nach der Machtübernahme der Taliban brach die afghanische Justiz vollständig zusammen. Im November 2022 erteilte der Oberste Führer der Taliban den Befehl zur vollständigen Umsetzung der Scharia (islamisches Recht) in Afghanistan. Verschiedene Vertreter*innen der Zivilgesellschaft berichteten über die Wiedereinführung von Körperstrafen in Afghanistan, darunter öffentliche Auspeitschungen, öffentliche Hinrichtungen, Zwangsamputationen von Gliedmassen, Steinigung und andere Formen von Misshandlung und Folter, die alle gegen internationales Recht verstossen.
In Afghanistan verschwindet die Zivilgesellschaft. Die Taliban betrachten Menschenrechtsverteidiger*innen, darunter protestierende Frauen, Basisorganisationen, Journalist*innen und politische Aktivist*innen als Feinde. Wer protestiert, fällt dem Verschwindenlassen zum Opfer, wird willkürlich festgenommen, inhaftiert, gefoltert oder in anderer Weise misshandelt. Seit dem Machtwechsel sind viele Menschen gezwungen, aus Angst vor Repressalien das Land zu verlassen, und ihre Familie und ihre Arbeit zurückzulassen. Hunderte von ihnen sitzen nach wie vor im Iran, in Pakistan und in der Türkei fest. Dort sehen sie sich rechtlichen und finanziellen Problemen gegenüber und ihnen droht die Abschiebung nach Afghanistan.
Die Menschenrechtsverteidiger*innen, die mit Amnesty International gesprochen haben, waren der Ansicht, dass die Rhetorik und Propaganda der Taliban den Ernst der Menschenrechtskrise in Afghanistan zum Teil damit herunterspielen, dass sie behaupten, Afghanistan sei jetzt «sicherer» und habe eine wachsende Wirtschaft, in der den Bürger*innen Würde und Respekt im Einklang mit der Scharia und ihrer Kultur gezollt würden. In Wirklichkeit haben die Taliban ein Umfeld der Angst und der absoluten Kontrolle geschaffen.
Schutz für Geflüchtete
Angesichts der dramatischen Menschenrechtslage insbesondere für Frauen und Mädchen in Afghanistan ruft Amnesty International auch die Schweiz dazu auf, Geflüchteten Schutz zu gewähren.
Amnesty International ruft die internationale Gemeinschaft zu einem energischen und koordinierten Vorgehen auf. Um die Taliban für Menschenrechtsverstösse zur Verantwortung zu ziehen, muss dringend ein solider Rechenschaftsmechanismus eingesetzt werden. Mit allen Mitteln soll Druck auf die Taliban ausgeübt werden, damit sie die Rechte von Frauen und Mädchen respektieren und schützen, die geschlechtsspezifische Verfolgung beenden und eine wirksame Beteiligung von Frauen in Gesellschaft, Politik und Kultur ermöglichen.
Die Staatengemeinschaft muss zudem konkrete Massnahmen ergreifen, um gegen die Praxis der körperlichen Bestrafung durch die Taliban vorzugehen und die Einrichtung einer unabhängigen und unparteiischen Justiz im Land zu unterstützen, die der afghanischen Bevölkerung – insbesondere den Frauen – Zugang zu Gerechtigkeit ermöglicht.