Der Menschenrechtsanwalt Xie Yang vor seiner Festnahme. Er ist einer von vielen inhaftierten, chinesischen Anwältinnen und Anwälten. © privat
Der Menschenrechtsanwalt Xie Yang vor seiner Festnahme. Er ist einer von vielen inhaftierten, chinesischen Anwältinnen und Anwälten. © privat

China Sanktionen und Haft statt Reformen

24. Januar 2017; der Text erschien zuerst in der South China Morning Post.
Die angestrebten Reformen des chinesischen Rechtssystems werden durch Sanktionen gegen Anwältinnen und Anwälte sowie bürokratische Auslegungen der Sicherheitsgesetze untergraben. Dies beschreibt Nicholas Bequelin, Regionaldirektor für Ostasien bei Amnesty International in Hongkong.

Hat China Rechtsanwältinnen und -anwälte nötig? Eine berechtigte Frage. Seit Juli 2015 hat Amnesty International mehr als 240 Fälle dokumentiert, in denen Rechtsanwältinnen und -anwälte und Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger festgenommen, verhört, schikaniert oder verurteilt wurden. Damit geht China so hart gegen Personen in Rechtsberufen vor wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Viele dieser Personen befanden sich monatelang in geheimer Haft, da die Polizei unter der chinesischen Gesetzgebung befugt ist, Personen, denen Gefährdung der staatlichen Sicherheit vorgeworfen wird, an einem willkürlichen Ort ausserhalb des offiziellen Haftsystems festzuhalten. Einige der Festgenommenen wurden gefoltert, und fast allen wurde der Kontakt zu Rechtsbeiständen und Familienangehörigen verweigert. In manchen Fällen legten die Betroffenen bizarre öffentliche «Geständnisse» ab. Vier Menschen sind bereits verurteilt und zwei offiziell inhaftiert worden. Fünf Angeklagte warten noch auf ihr Gerichtsverfahren.

All dies passt nicht besonders gut zu der Beteuerung von Präsident Xi Jinping, das Rechtssystem in China energisch ausbauen zu wollen, um es zu einem Hauptinstrument der Regierungsführung zu machen.

Machtmissbrauch eindämmen

Bei seinem Amtsantritt machte der Präsident das gewagte Versprechen, Machtmissbrauch eindämmen zu wollen, und zwar auf jeder Ebene des Staatsapparates. Er liess diesen Worten Taten folgen, indem er seinem diskreditierten politischen Rivalen Bo Xilai ein nach chinesischen Verhältnissen relativ transparentes Verfahren ermöglichte, das berüchtigte System der «Umerziehung durch Arbeit» abschaffte und das Thema «Rechtsstaatlichkeit» zum Hauptthema für die vierte Plenarsitzung der Kommunistischen Partei im Jahr 2014 machte.

Seither wird in China ein ehrgeiziger Plan zur Bewältigung der Mängel im Justizsystem umgesetzt, so etwa Korruption, Machtmissbrauch, politische Einflussnahme, Fehlurteile, erzwungene «Geständnisse» und Folter.

Doch dem oben erwähnten Plan stehen mindestens zwei Hindernisse im Weg. Da wäre zunächst einmal die fehlende Einsicht der Behörden, dass auf dem Papier zugestandene Rechte nur dann wirklich etwas gelten, wenn im Fall einer Vorenthaltung oder Verletzung die Möglichkeit auf einen Rechtsbehelf besteht. Ohne wirksame Rechtsbehelfe sind auf Papier festgeschriebene Rechte bedeutungslos. Und zur Gewährleistung dieser Rechtsbehelfe braucht es Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.

Unverzichtbare Rolle

Anwältinnen und Anwälte sind nicht immer besonders beliebt, und das ist in China nicht anders. Dort werden Anwältinnen und Anwälte oft als Geldverschwendung, als nutzlos und sogar als aufwieglerisch bezeichnet. Doch sie spielen in der Rechtspflege eine unverzichtbare Rolle, nicht zuletzt weil sie im Justizsystem die einzigen sind, die direkt dem Kläger beziehungsweise dem Angeklagten verpflichtet sind. Dies ist umso wichtiger, da in China die Unabhängigkeit der Justiz nicht anerkannt ist: Ohne Rechtsbeistände geht die Chance für Normalbürger, ihre Rechte gegenüber dem mächtigen Staatsapparat geltend zu machen, gegen Null.

Damit die rechtlichen Reformen von Xi Jinping Aussicht auf Erfolg haben, müssen Rechtsbeistände grössere Freiheiten haben. Dies fängt mit der grundsätzlichen Freiheit an, eigene und unabhängige Berufsverbände zu gründen, anstatt unter der Fuchtel des Justizministeriums zu stehen. Erst dann können sie selbstbestimmt auftreten und von der Regierung fordern, ihre eigenen Gesetze einzuhalten.

Das zweite Hindernis für den Reformplan des Präsidenten hat er selbst geschaffen: die rücksichtslose Ausweitung der Gesetze zur nationalen Sicherheit und deren Anwendung zum Schutz der politischen Macht der Partei. Präsident Xi Jinping mag damit wohl beabsichtigt haben, politische Herausforderungen zu vermeiden; doch diese Agenda hat für die Staatssicherheitsbehörden einen starken Anreiz geschaffen, von ihren neuen Befugnissen - einschliesslich der Anordnung von Haft ohne Kontakt zur Aussenwelt - Gebrauch zu machen und geringfügige Fälle sozialer Unzufriedenheit oder abweichende Meinungen als Verschwörungen gegen die nationale Sicherheit unter Beteiligung "feindlicher ausländischer Kräfte" darzustellen.

Angesehene Menschenrechtlerinnen und -rechtler

Und genau dies geschieht im Fall der Anwältinnen und Anwälte und Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger, die ins Visier genommen werden: Angesehene chinesische Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler, die sich in politisch brisanten Fällen couragiert mit mächtigen Kräften wie der Polizei oder lokalen Machthabern anlegen, werden in den staatlichen Medien als zwielichtige Farbrevolutionsfanatiker dargestellt, die von ausländischen Mächten dafür bezahlt werden, in China Chaos zu verbreiten. Verständlicherweise schrecken daher viele Anwältinnen und Anwälte davon ab, politisch brisante Fälle anzunehmen.

Da sie in ihrem eigenen Land derart unterdrückt werden, benötigen chinesische Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte dringend internationale Solidarität und Unterstützung. Genau dies bietet die Initiative einiger grosser internationaler Rechtsvereinigungen, die den 24. Januar als den «Tag der bedrohten Anwältinnen und Anwälte» ausgerufen haben.

In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf China und es bleibt zu hoffen, dass diese Kampagne dazu beiträgt, Präsident Xi Jinping zu überzeugen, Anwältinnen und Anwälte bei der Verbesserung des chinesischen Rechtssystems als Verbündete und nicht als Feinde zu betrachten.