Déjà-vu auf Chinesisch Warum chinesische Kinder auch nach dem jüngsten Impfskandal nicht sicher sind

Von Hana Young, Amnesty International Hongkong. 31. Juli 2018
Seit Jahren schon sind in China mangelhafte Impfstoffe im Umlauf, doch Pharmakonzerne werden weiterhin nicht genügend beaufsichtigt. Auf Gesundheitsskandale reagieren die Behörden mit dem üblichen Reflex: Sie unterdrücken Proteste und zensurieren öffentliche Kritik. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Skandal das Land erschüttert.

Am 28. Juli 2018 hat der Artikel «The Kings of Vaccine» auf meinem chinesischen  Social-Media-Feed die Runden gemacht und alle anderen Beiträge - sogar Katzenvideos - verdrängt. Die Reportage wurde auf der chinesischen Social-Media-Plattform WeChat veröffentlicht und beschreibt den Aufstieg von drei Pharmakonzernen. Sie haben  mehrere Gesundheitsskandale unbeschadet überstanden. Der Artikel legte auch dar, wie eines der Unternehmen kürzlich Hunderttausende von minderwertigen Impfstoffen produziert und verkauft hat.

«Diese Impfstoffe werden jeden Tag in die Blutbahn von Ihnen und Ihren Kindern gespritzt.»

Der Artikel erzürnte viele Menschen, vor allem besorgte Eltern.

Wie erwartet, wurde der Beitrag schnell zensuriert, «ge-404-t», wie sie es nennen, in Anlehnung an die 404-Fehlerseiten. Aber die Leute liessen sich das nicht gefallen und verbreiteten den Artikel dennoch weiter. «The Kings of Vaccines» fand schnell seinen Weg auf zahlreiche Social-Media-Plattformen, es hagelte Kommentare und Empfehlungen an Eltern, wie man schlechte Impfstoffe von guten unterscheiden kann und wo man sich im nahen Hongkong impfen lassen kann.

Viele dieser Artikel waren kurzlebig, die ZensorInnen arbeiteten rund um die Uhr, aber die Empörung konnte nicht eingedämmt werden.

Déjà-vu. Das ist schon mal passiert.

Im Jahr 2016 wurde bekannt, dass in ganz China seit vielen Jahren mangelhafte Impfstoffe im Wert von 88 Millionen US-Dollar verkauft wurden. Die Nachricht führte zu grosser Wut und die Regierung reagierte prompt. Premier Li Keqiang erteilte innerhalb weniger Tage nach dem Aufschrei eine «Anweisung», die zur Verhaftung von mehr als 100 Personen führte. Proteste gegen die Qualität dieser Impfstoffe und Entschädigungsforderungen von betroffenen Familien blieben unbeantwortet.

Im Jahr 2010 veröffentlichte die «China Economic Times» einen Untersuchungsbericht über 78 dokumentierte Fälle von Kindern, die in der Provinz Shanxi nach der Impfung starben oder erkrankten. Der Bericht enthüllte Beweise dafür, dass Impfstoffe absichtlich nicht gekühlt wurden. Nach der Veröffentlichung wurde Chefredaktor Bao Yueyang entlassen und die betroffenen Eltern überwacht.

Die Liste könnte beliebig weitergeführt werden.

All diese Vorfälle folgen einem bekannten Muster:
  1. Weit verbreitete öffentliche Empörung
  2. ZensorInnen springen ein, um die öffentliche Meinung zu unterdrücken.
  3. Regierung gibt öffentliche Erklärungen ab
  4. Aktivisten und Reporterinnen werden zum Schweigen gebracht
  5. Zurück auf Feld 1

 China hat mehrere internationale Abkommen ratifiziert, die die Behörden verpflichten, das Recht auf Gesundheit zu garantieren. Dazu gehört die Verpflichtung, die Sicherheit und Qualität medizinischer Güter und Dienstleistungen sowie den Zugang zu Gesundheitsinformationen zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger Rechtsmittel einlegen können, wenn ihr Recht auf Gesundheit verletzt wird.

Doch anstatt Gerechtigkeit zu schaffen, wenn die Dinge schrecklich schieflaufen, verfolgen die chinesischen Behörden diejenigen, die die betroffenen Familien unterstützen wollen. Im Jahr 2010 wurde Zhao Lianhai, der für staatliche Medien gearbeitet hatte, zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er hatte sich um Gerechtigkeit für Familien bemüht, die ihren Babys Milchpulver gegeben hatten, das mit Melamin, einer Industriechemikalie zur Herstellung von Kunststoffen und Düngemitteln, verunreinigt war.

Anfang dieses Jahres wurde Dr. Tan Qindong für drei Monate inhaftiert, nachdem er in einem Blogbeitrag ein chinesisches Arzneimittel als «giftig» bezeichnet hatte. Er wurde freigelassen, nachdem seine Verhaftung öffentliche Entrüstung ausgelöst hatte.

Anwälte und AktivistInnen, die über den ordentlichen Rechtsweg versuchen, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, werden systematisch inhaftiert. Der Menschenrechtsanwalt Tang Jingling, der Eltern von Kindern vertrat, die durch Impfstoffe geschädigt wurden, verbüsst eine fünfjährige Haftstrafe wegen «Aufwiegelung gegen die Staatsmacht».

Kurz nach Mitternacht am vergangenen Sonntag, einen Tag nachdem «The Kings of Vaccines» viral ging, veröffentlichten die Medien in China eine weitere «Anweisung» des chinesischen Premierministers, mit einem bekannten Versprechen:

«....der Impfstoff-Fall hat eine moralische Grenze überschritten, und die Nation verdient eine Erklärung.»

Am nächsten Tag wurde der Aktivist Qi Jing, der sich in einem früheren Fall von gefälschtem Impfstoff eingesetzt hatte, während drei Stunden von der örtlichen Polizei verhört.

Unabhängige Kontrolle unerwünscht

Das zeigt: Die chinesische Regierung versteht es, schnell und mit bekanntem Muster auf öffentliche Unruhen zu reagieren. Eine unabhängige Kontrolle von Staat und Wirtschaft durch die Öffentlichkeit, die Medien oder NGOs dagegen ist nicht erwünscht und nicht erlaubt.

Der Fall der minderwertigen Impfstoffe umfasste laut staatlichen Medien 252‘600 Dosen, wobei 215‘184 Kinder in ganz China eine Spritze erhielten.

Das derzeitige Regulierungssystem ist offensichtlich gescheitert. Ohne Angst vor Konsequenzen – sei es in Form öffentlicher Empörung, unabhängiger Berichterstattung oder von Sammelklagen – werden Unternehmen aber weiterhin auf Kosten der Sicherheit sparen. Das nächste kollektive Déjà-vu ist vorprogrammiert.