Ilham Tohti an der Universität Peking, vor seiner Verhaftung vor vier Jahren. © Privat
Ilham Tohti an der Universität Peking, vor seiner Verhaftung vor vier Jahren. © Privat

China, Autonome Uigurische Region Xinjiang Präzedenzlose Repression in Chinas «Fernem Westen»

Von Roseann Rife, Ostasien-Direktorin von Amnesty International, erschienen am 17. Januar 2017 in der South China Morning Post
Was nach der Verhaftung des uigurischen Wirtschaftswissenschafter Ilham Tohti vor vier Jahren befürchtet wurde, ist eingetreten: Die Repression Chinas gegen die uigurische Bevölkerung hat massiv zugenommen, und die Überwachung ist umfassend.

Vor vier Jahren wurde der bekannte uigurische Wirtschaftswissenschafter Ilham Tohti verhaftet. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe wegen «Separatismus». Verschiedene Kommentatoren sagten damals voraus, dass dies der Auftakt zu einer gross angelegten Repressionskampagne der chinesischen Behörden in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang sein könnte mit dem Ziel, ethnische Spannungen zu unterdrücken und gemässigte uigurische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Sie hatten recht: Die Region ist inzwischen ein umfassender Polizeistaat.

Xinjiang ist heute geprägt von omnipräsenter polizeilicher und elektronischer Überwachung, überfüllten Haftzentren, schwer bewaffneten Sicherheitskräften in den Strassen, allgegenwärtigen Checkpoints und einer Vielzahl von menschenrechtswidrigen Eingriffen in die Privatssphäre und die Freiheitsrechte der Uigurinnen und Uiguren. 

Die systematische Diskriminierung der UigurInnen – ein mehrheitlich muslimisches Turkvolk – besteht seit langem: Unter dem Vorwand des Kampfes gegen «Separatismus» sind sie seit den 80-er-Jahren Ziel staatlicher Verfolgung. Willkürliche Verhaftungen in teilweise geheimen Haftanstalten, Einschränkungen der Religionsfreiheit und ihrer wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte sind nicht neu.     

Aber nachdem Chen Quanguo in Xinjiang seit zwei Jahren Parteichef ist, ist die Region zum Testlabor für die weitreichendsten Repressionsmassnahmen geworden, die China in den letzten Jahr(zehnt)en gesehen hat. 

Die wenigen JournalistInnen, welche Xinjiang in den letzten Jahren besucht haben, berichten von zahllosen Checkpoints auf den Strassen, von Sicherheitskontrollen und Metalldetektoren bei den Eingängen zu öffentlichen Parks und systematischen Stichproben von Mobiltelefonen, um sicherzustellen, dass eine neue, für alle Geräte obligatorische Sicherheits-App installiert ist. 

Die Behörden haben die Überwachung auf ein nie da gewesenes Ausmass gehoben und namentlich Datenbanken unter Nutzung der neuesten Technologien wie DNA, Biometrik oder Gesichtserkennung angelegt. In diesen «Police Clouds» genannten Big-Data-Plattformen sammelt und analysiert die Polizei alle möglichen Informationen, um bestimmte Gruppen zu überwachen, die ihrer Ansicht nach die «soziale Stabilität» bedrohen. 

Während «Big Brother» jede Bewegung überwacht, haben die Behörden den Druck auf diejenigen UigurInnen verdoppelt, die ihre Religion praktizieren. Anpassungen in der Regulierung religiöser Angelegenheiten stellen seit 2017 die staatliche Kontrolle über sämtliche Aspekte der Religionsanwendung sicher. Im März in Xinjiang eingeführte «De-Radikalisierungs»-Massnahmen richten sich dabei offensichtlich gegen Muslime, indem sie das Tragen« abnormaler Bärte», die Weigerung zu rauchen und während des Ramadans Alkohol zu verkaufen, als «extremistisch» deklarieren. Neue Regeln verbieten für Neugeborene und alle unter 16 Jahren sogar den Gebrauch islamischer Namen. 

UigurInnen, die im Ausland studierten, wurden angewiesen, nach Hause zurückzukehren. Regierungen von Drittstaaten haben daraufhin uigurische und andere chinesische Studierende vorgeladen und zu ihren Studien und Aktivitäten verhört.  Im Juli 2017 erhielt Amnesty glaubhafte Berichte, wonach mindestens 22 uigurische Studierende von Ägypten zwangsweise nach China zurückgebracht wurden. Zwei Studenten, die freiwillig aus Ägypten zurückgekehrt sind, starben in Polizeigewahrsam.

Im Zuge der Repressionskampagne werden Tausende von Uiguren und anderen Muslimen in «Zentren gegen Extremismus», «Zentren für politische Studien» «Ausbildungs- und Umerziehungszentren» festgehalten – während Monaten, ohne jede unabhängige richterliche Überprüfung, ohne Zugang zu anwaltlichem Beistand und ihren Angehörigen und allein deshalb, weil sie etwa im Besitz eines Korans waren, im Ausland studierten oder Angehörige im Ausland haben. 

Die Behörden begründen die Repression mit dem Schutz der nationalen Sicherheit und dem Kampf gegen «Terrorismus» und «Extremismus». Die 2014 landesweit eingeführte Gesetzgebung zur nationalen Sicherheit enthält vage formulierte Gesetze, welche Missbrauch Tür und Tor öffnen.

Jeder Staat hat das Recht und die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen auf die Bevölkerung und die öffentliche Ordnung zu schützen. Entsprechende Massnahmen müssen jedoch verhältnismässig sein und so genau wie möglich auf eine spezifische Bedrohung zielen. Was wir jedoch in China (und auch anderswo) sehen, sind Überreaktionen und die Verunglimpfung ganzer ethnischer oder religiöser Gruppen anstatt die strafrechtliche Verfolgung jener Individuen, welche Verbrechen begangen haben.

Genau diese Verunglimpfung hat Ilham Tohti in seinen Schriften angeklagt. Er gab seiner Sorge Ausdruck, dass seine Heimatregion so in «Aufruhr und Spaltung» geraten könnte und sprach sich selbst für «harmonische ethnische Koexistenz» aus. So sagte er, dass er «glaube, dass es eine unserer wichtigsten Aufgaben und Missionen ist, auf dem Marktplatz der Ideen rationale und konstruktive Argumente einzubringen gegen extremere Stimmen». Also das genaue Gegenteil des «Separatismus», dessen er angeklagt ist. 

Die Menschen in einem Polizeistaat ohne menschenrechtliche Garantien zu fesseln wird mittel- und langfristig nicht zur «Stabilität», dem deklarierten Ziel der chinesischen Regierung, führen. Dafür wäre ein Umfeld nötig, in dem die Menschen frei sind, ihre Religion und ihre Kultur ohne Angst vor Verfolgung zu leben. Ilham Tohti weiss das. Indem die chinesischen Behörden ihn hinter Gitter brachten, haben sie eine gemässigte Stimme zum Schweigen gebracht, die genau zu jener Stabilität beitragen könnte, die sie zu suchen vorgeben. 

Der Text erschien im Original auf Englisch in der South China Morning Post, Hongkong. Übersetzung:  Reto Rufer, Schweizer Sektion von Amnesty International.