Es ist eines der kraftvollsten Bilder für den Kampf um Freiheit der jüngeren Geschichte: Ein Mann, zwei Einkaufstüten in der Hand, steht am 4. Juni 1989 allein auf dem Pekinger Tiananmen-Platz, vor einer anrollenden Panzerkolonne. Er hebt die Hand, und für einen kurzen Moment stoppen die Panzer.
Was diesen Akt des Widerstands noch bemerkenswerter macht, ist die Tatsache, dass nur Stunden zuvor Panzer und Soldaten der chinesischen Demokratiebewegung mit grösster Brutalität den Garaus gemacht hatten: Hunderte, wenn nicht Tausende von Studentinnen und Arbeitern, die während Wochen friedlich politische Reformen gefordert hatten, wurden niedergewalzt und erschossen. Danach gingen die Behörden rigoros gegen die Menschen vor, die sie als Drahtzieher der Demokratiebewegung identifiziert hatten - zum Beispiel gegen Wang Dan und Lü Jinghua, deren Geschichte Amnesty hier aufzeichnet (englisch).
Zwangsjacke des Schweigens
Dass niemand weiss, wie viele Menschen damals getötet worden sind, ist kein Zufall: Denn bis heute, 30 Jahre danach, tut das chinesische Regime alles, um jegliches Erinnern, jegliche Auseinandersetzung mit dem Massaker, zu unterdrücken: In den letzten Wochen hat die Polizei wieder Dutzende von AktivistInnen sowie Angehörige von Opfern verhaftet, die versuchten, des Massakers zu gedenken. Jeder Hinweis auf Tiananmen wird systematisch zensiert, wie Li Yuan in seinem Beitrag «Learning China’s Forbidden History, So They Can Censor It» für die NYT aufzeigt.
Verhaftungen und Ausweisungen
Im April wurde Chen Bing unter dem Vorwurf der «Unruhestiftung» zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt - er und seine Mitstreiter hatten auf speziellen Etiketten von Likörflaschen des Tiananmen-Jahrestages gedacht. Auch ein einziger Tweet mit Bezug zum Massaker kann zur Verhaftung führen. Eine gängige Form, jegliches Gedenken zu unterdrücken, stellen auch Ausweisungen dar: So wurde die 82-jährige Ding Zilin, deren damals 17-jähriger Sohn während der Niederschlagung der Demokratiebewegung getötet worden war, gezwungen, Peking nach ihrer über 1000 Kilometer entfernten Heimatstaat zu verlassen. Ding Zilin ist ein Gründungsmitglied der «Tiananmen-Mütter», die eine Untersuchung des Massakers von 1989 fordern. Die rigorosen Unterdrückungsmassnahmen passen ins Bild eines Chinas, das unter Xi Jinping Menschenrechtsanwälte und AktivistInnen, welche politische und rechtliche Reformen fordern, durch willkürliche Verhaftungen, lange Polizeihaft an unbekannten Orten, Folter und Misshandlung unterdrückt.
Amnesty fordert Gerechtigkeit
«Die chinesische Regierung muss endlich erkennen, dass auch die umfassendste Unterdrückung den Horror des Massakers von Tianamen nicht auslöschen wird. Ein erster Schritt hin zu Gerechtigkeit wäre es, den Menschen in China und insbesondere den inzwischen betagten Eltern, deren Kinder damals getötet worden sind, zu gestatten, den Opfern vom 3./4. Juni 1989 gedenken zu können», so Roseann Rife, die Research-Direktorin für Ostasien von Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation fordert die chinesische Regierung zum 30. Jahrestag der Massaker einmal mehr auf,
- die Menschenrechtsverletzungen bei der Niederschlagung der friedlichen Demokratiebewegung anzuerkennen,
- eine umfassende und unabhängige Untersuchung einzuleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen,
- die Opfer der Massaker und ihre Angehörigen zu entschädigen,
- die Repression gegen diejenigen, welche der Proteste von 1989 und des Massakers von Tiananmen zu gedenken versuchen, ebenso zu beenden, wie ganz generell die Verfolgung all jener, welche ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen.