Sathinath Sarangi, Gründer des Sambhavna Trust (links) und Rachna Dhingra, Koordinatorin der International Campaign for Justice in Bhopal besuchten die Schweiz, um über die andauernden Folgen der Chemikatastrophe in Bhopal aufzuklären sowie darüber, dass der Konzern Dow Chemical keine Verantwortung übernehmen will. © Amnesty International
Sathinath Sarangi, Gründer des Sambhavna Trust (links) und Rachna Dhingra, Koordinatorin der International Campaign for Justice in Bhopal besuchten die Schweiz, um über die andauernden Folgen der Chemikatastrophe in Bhopal aufzuklären sowie darüber, dass der Konzern Dow Chemical keine Verantwortung übernehmen will. © Amnesty International

Indien / Schweiz Gleichgültigkeit tötet ein zweites Mal!

Kommentar von Danièle Gosteli Hauser, Verantwortliche Wirtschaft und Menschenrechte bei Amnesty International Schweiz, 10. Juni 2026
Amnesty International Schweiz und Aktivist*innen aus Bhopal wollten Dow Chemical am Hauptsitz in Horgen zur Verantwortung ziehen für die Chemiekatstrophe, die bis heute tausende Menschenleben fordert. Doch der Konzern weigert sich, die Delegation zu empfangen.

Im Dezember 1984 wurde die Welt Zeugin einer der schlimmsten Industriekatastrophen aller Zeiten. Mitten in der Nacht traten in Bhopal in Zentralindien 27 Tonnen des hochgiftigen Gases Methylisocyanat (MIC) aus einem Tank der Fabrik aus, die dem US-amerikanischen Unternehmen Union Carbide Company (UCC) gehörte. Diese Tragödie wird heute auch als das «Tschernobyl Indiens» bezeichnet.

Mehr als 22'000 Menschen starben, weil sie dem Giftgas direkt ausgesetzt waren. Doch damit nicht genug: Mehr als 500'000 Menschen leiden bis heute an bleibenden Schäden. Entschädigung erhielten die Betroffenen nie. Im Gegenteil: Die verantwortlichen Unternehmen, UCC und später Dow Chemical (Dow), das UCC 2001 aufkaufte, weigern sich aktiv, Verantwortung für die Tragödie zu übernehmen, das Gelände vollständig zu sanieren und die Opfer angemessen zu entschädigen. Es herrscht die Herrschaft der Straflosigkeit.

Am 28. Mai begleitete eine Delegation von Amnesty International zwei Aktivist*innen aus Bhopal zum Hauptsitz von Dow Europe in Horgen am Zürichsee. Rachna Dhingra, Koordinatorin der International Campaign for Justice in Bhopal, und Sathinath Sarangi, Gründer des Sambhavna Trust, wollten Gerechtigkeit fordern. Ihre Idee war, der Geschäftsleitung von Dow Europa verseuchtes Wasser aus Bhopal zu überreichen und mit den Verantwortlichen über Entschädigungen zu sprechen. Stattdessen trafen sie auf geschlossene Türen.

250611_Bhopal2_Opinion_IMG_4659.jpg Die Delegation von Amnesty Schweiz und die beiden Aktivist*innen Rachna Dhingra und Sathinath Sarangi aus Bhopal wurden bei Dow Chemical nicht vorgelassen. © Amnesty International

Als ich den ergreifenden Berichten von Rachna und Sathyu zuhöre, stelle ich fest, dass die Bevölkerung zweimal getötet wurde. Das erste Mal, als 1984 das hochgiftige MIC aus der Fabrik entwich, und das zweite Mal, heute, durch die allgemeine Gleichgültigkeit. Denn wenn man in der Öffentlichkeit auf über die Katastrophe von Bhopal spricht, wird oft gefragt: «Bho - was?».

Für viele ist die Katastrophe in Bhopal zu lange her, um sich daran zu erinnern. Doch die Gemeinden in Bhopal können nicht vergessen. Frauen gebären immer noch Kinder mit Geburtsfehlern, wenn sie nicht sogar Fehlgeburten erleiden. Die Menschen leiden an Tuberkulose, Lungenproblemen, koronaren Herzerkrankungen oder Nervenkrankheiten. Die indische Regierung hat zwar versucht, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, aber der Hauptsitz von UCC und nun auch von Dow befindet sich in den USA – eine Hürde für effektive Konzernverantwortung. Der Direktor von UCC, Warren Anderson, wurde kurz nach der Katastrophe einen Tag lang inhaftiert und dann gegen Kaution freigelassen. Er beeilte sich dann, in seine Heimat zurückzukehren, tausende Kilometer von Bhopal entfernt, wo er vor Strafverfolgung gut geschützt war. Inzwischen ist er verstorben.

Die Aktivist*innen von Bhopal haben eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit bewiesen. Unermüdlich reisen sie um die Welt und setzen sich dafür ein, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden: eine vollständige Säuberung des verseuchten Geländes, gerechte Entschädigungen, Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung sowie eine umfassende soziale und wirtschaftliche Rehabilitation der Gemeinden. Es ist ein langwieriger Kampf auf einem steinigen Weg.

Am 27. Mai, einen Tag bevor sie zum Hauptsitz von Dow fuhren, schlossen sich Rachna und Sathyu in einer festlichen Atmosphäre der Übergabe der mehr als 280'000 Unterschriften für die neue Konzernverantwortungsinitiative an. Diese fordert eine starke und wirksame Gesetzgebung in der Schweiz, damit multinationale Konzerne bei Missbrauch oder Umweltverschmutzung zur Verantwortung gezogen werden können. Eine Forderung, die an die Suche der Gemeinschaften von Bhopal nach Gerechtigkeit anknüpft, die ignoriert und in ihren Rechten verletzt wurden. Eine Forderung, die verhindern könnte, dass multinationale Konzerne straflos davonkommen und sich gar weigern, die  Türen zu öffnen, um Betroffenen zuzuhören.  

Mehr zu den Folgen der Giftgaskatastrophe und zum Kampf um Gerechtigkeit in der Reportage von Natalie Mayroth im AMNESTY-Magazin von September 2024.