Evictions at the UNESCO World Heritage site of Angkor Evictions at the UNESCO World Heritage site of Angkor
© Amnesty International

Kambodscha Zwangsräumungen in der Unesco-Welterbestätte Angkor

9. Dezember 2023
Seit Mitte 2022 vertreiben die kambodschanischen Behörden Tausende Familien aus dem Tempelpark in der Stadt Siem Reap. Sie begründeten dies mit der Notwendigkeit, die rund tausend Jahre alte Anlage vor Schäden zu schützen. Die Unesco hingegen schaut weg.

Massenvertreibungen, von denen Tausende von Familien in der Unesco-Welterbestätte Angkor betroffen sind, verstossen gegen die internationalen Menschenrechte, erklärte Amnesty International anlässlich der Veröffentlichung neuer Untersuchungen, die aufzeigen, wie die kambodschanischen Behörden die Menschen im Namen der Konservierung (orig: conservation) zur Umsiedlung zwingen.

«Die kambodschanischen Behörden haben Familien, die seit mehreren Generationen in Angkor leben, auf grausame Weise entwurzelt.» Montse Ferrer, stellvertretende Regionaldirektorin bei Amnesty International

Zwischen März und Juli 2023 besuchte Amnesty International das Weltkulturerbe Angkor, den Hauptort der Vertreibung, sowie Run Ta Ek und Peak Sneng, die beiden von der Regierung zugewiesenen Umsiedlungsgebiete.

Die Recherchen von Amnesty International, die auf Interviews mit mehr als 100 Personen, neun persönlichen Besuchen in der Tempelanlage von Angkor und zwei Umsiedlungsorten beruhen, zeigen, dass die kambodschanischen Behörden es versäumt hatten, die Betroffenen vor den Vertreibungen angemessen zu informieren oder Konsultationen zu führen. Darüber hinaus haben die Behörden die Menschen offenbar eingeschüchtert und bedroht, damit sie die Vertreibungen nicht hinterfragen; sie müssten ansonsten an Orte umziehen, in welchen es keine Wohnungen, keine angemessene Wasserversorgung, keine sanitären Einrichtungen und Existenzgrundlagen gäbe.

Ein Mann blickt auf ein zerstörtes Haus in der Weltkulturerbestätte Angkor, März 2023. © Amnesty International

«Die kambodschanischen Behörden haben Familien, die seit mehreren Generationen in Angkor leben, auf grausame Weise entwurzelt und sie gezwungen, an schlecht vorbereiteten Umsiedlungsstandorten von der Hand in den Mund zu leben. Sie müssen sofort aufhören, die Menschen gewaltsam zu vertreiben und die internationalen Menschenrechtsbestimmungen zu verletzen», sagte Montse Ferrer, stellvertretende Regionaldirektorin bei Amnesty International.

Drohungen und Schikanen

Der damalige Premierminister Hun Sen hatte den Umsiedlungsplan im vergangenen Jahr in Reden erläutert. Er warnte, dass die Menschen keine Entschädigung erhalten würden, wenn sie der Aufforderung zu gehen nicht Folge leisten. Er sagte auch, der Grund sei der Schutz des Weltkulturerbes von Angkor.

Amnesty International dokumentierte sowohl direkte als auch subtile Drohungen gegenüber den Bewohner*innen, mit denen sie gezwungen wurden, umzuziehen oder sich am Umsiedlungsprogramm zu beteiligen. Die Behörden warnten vor Stromausfällen, Überschwemmungen und sogar vor Verhaftung. Die meisten Befragten wiesen die Behauptung zurück, die Vertreibungen seien «freiwillig» erfolgt. Auf die Frage von Amnesty International, ob die Umsiedlung freiwillig sei, antwortete eine Frau, die seit mehr als 70 Jahren in Angkor lebt: «Niemand will sein Zuhause verlassen.»

Nach den Erkenntnissen von Amnesty International haben Dorfvorsteher*innen, lokale Behörden und Beamte der für die Konservierung zuständigen kambodschanischen Regierungsbehörde − in Khmer und Englisch unter der Abkürzung APSARA bekannt − Dutzende von Familien schikaniert und eingeschüchtert, indem sie wiederholt ihre Häuser aufsuchten und sie aufforderten, zu gehen. «Sie sagten, es freiwillig −  aber wenn man es nicht mache, werde man das Land verlieren ... also sind wir freiwillig gegangen», sagte eine Person.

Luftaufnahme des Umsiedlungsortes von Run Ta Ek. © Amnesty International
Prekäre Behausungen

Den Bewohner*innen, die «freiwillig» gingen, wurden leere Grundstücke (20 m x 30 m) zugewiesen. Sie erhielten dreissig Wellblechplatten, eine Plane, ein Moskitonetz, eine Pauschalzahlung von einigen hundert Dollar und eine Sozialversicherungskarte. Damit sollten sie neue Häuser bauen, nachdem sie ihre alten Häuser verloren hatten. Amnesty Vertreter*innen waren Augenzeug*innen davon, wie die Menschen ihre eigenen Häuser abbauten, zum Umsiedlungsort reisten und  neue Häuser aufbauten.

Tausende mussten unter Planen oder in der Witterung ausgesetzten Unterständen zu leben, in denen es keine sanitären Einrichtungen gab.

In vielen Fällen hatten die Familien keine andere Wahl, als monatelang unter behelfsmässigen Behausungen zu wohnen. Denn das Versäumnis der kambodschanischen Behörden, ausreichend Wohnraum zur Verfügung zu stellen, zwang Tausende unter Planen oder in der Witterung ausgesetzten Unterständen zu leben, in denen es keine sanitären Einrichtungen einschliesslich angemessener Toiletten gab. Amnesty International wurde auch Zeugin, wie der Ort bei Regen leicht überflutet wurde.

Eine Familie, die unter Planen lebte, während sie ihr neues Haus in Run Ta Ek von Hand baute, berichtete Amnesty International, dass ihr Baby wegen der hohen Temperaturen nicht schlafen konnte. «Wir haben ein Kleinkind, das wir alle paar Stunden mit Wasser duschen müssen, damit es nicht zu heiss wird. Wenn wir nicht gerade an unserem eigenen Haus bauen, suchen wir Schutz vor der Sonne im Schatten eines anderen Hauses»

Entgegen internationalen Menschenrechtsstandards haben die kambodschanischen Behörden also nicht sichergestellt, dass das Hauptumsiedlungsgebiet − bekannt als Run Ta Ek − ausreichend mit den grundlegenden Dienstleistungen und notwendigen Einrichtungen ausgestattet war, als die Menschen dort einzogen. Um die Bau- und Lebenshaltungskosten zu decken, mussten die Familien Besitz verpfänden, den sie im Rahmen des Umsiedlungsprogramms erhalten hatten, und sich verschulden. 

Keine ausreichende Arbeitsmöglichkeit

Viele Familien beklagten sich auch über den Verlust ihrer Arbeitsplätze und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Gelände, das 45 Autominuten von der Stadt Siem Reap entfernt liegt, wo sich die zum Weltkulturerbe gehörenden Angkor-Tempel befinden.

Für die Landwirt*innen war es eine besondere Herausforderung, da die neue Wohnstätte weit von ihren Reisfeldern entfernt liegt. Viele Familien berichteten, dass sie nicht genug zu essen hätten, da sie den Zugang zu ihrer wichtigsten oder einzigen Einkommensquelle in Angkor verloren.

Kambodschanische Regierungsvertreter*innen wiesen die Recherchen von Amnesty International zurück; sie beschuldigten die Organisation,  Schlussfolgerungen gezogen zu haben , die «meilenweit von der realen Situation entfernt abweichen».

Unesco muss aktiv werden

Obwohl die Unesco über die Vertreibungen und die Bedingungen der Umsiedlung genau Bescheid weiss, hat sie die Vorgänge in Angkor nicht öffentlich verurteilt. Sie scheint auch keine öffentliche Untersuchung der Ergebnisse von Amnesty International durchgeführt zu haben.

Der kambodschanische Staat hat sich wiederholt auf die Unesco berufen, um sein «Umsiedlungsprogramm» zu rechtfertigen. In mindestens 15 Fällen berichteten Familien gegenüber Amnesty International, dass die Behörden die Unesco als Grund dafür angaben, dass die Menschen Angkor verlassen mussten.

Die von Amnesty befragte Devi, deren Name aus Sicherheitsgründen hier geändert wurde, sagte, dass Beamte der APSARA und des Landministeriums ihr gesagt hätten: «Die UNESCO will, dass du gehst. Wir müssen befürchten, dass die Unesco der Stätte den Status eines Weltkulturerbes entzieht. Allso musst du gehen.» Devi hatte ihren Vater nach einem Sturz bei der Restaurierung eines der Tempel verloren. Sie erklärte , sie sei verwirrt und wütend geworden, als Vertreter *innen der APSARA ihr sagten, dass die UNESCO sie nicht hier bleiben lasse. «Ich möchte die UNESCO fragen, warum sie uns vertreiben?» sagte Devi. «Wir haben den Tempeln nie Schaden zugefügt. Als ich ein Kind war, haben wir in Angkor Wat gespielt, geklettert und geputzt.»

Anführer*innen der Gemeinschaft versuchten, auf dem Unesco-Büro in Phnom Penh eine Petition zu überreichen, in der sie ihre Beschwerden über die Vertreibungen zum Ausdruck brachten. Doch ein Sicherheitsbeamter wies sie ab mit der Begründung, dass die Unesco nicht für Landfragen zuständig sei.

Das Welterbezentrum der Unesco meint, dass die Handlungen eines Vertragsstaates nicht in der Verantwortung der Organisation liegen würde.

Als Reaktion auf die Ergebnisse des Berichts erklärten Vertreter*innen der Unesco gegenüber Amnesty International, dass man niemals zu «Bevölkerungsverschiebungen» aufgerufen habe. Auf die Behauptung von Amnesty International, die Vertreibungen würden in ihrem Namen durchgeführt, antwortete das Welterbezentrum der Organisation, dass die Handlungen eines Vertragsstaates nicht in der Verantwortung der Unesco liegen würde, «selbst wenn ein Mitgliedstaat seine Handlungen unter Berufung auf die Organisation rechtfertige».

«Wenn die Unesco die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, dann sollte sie Zwangsräumungen als Mittel zur Verwaltung einer Welterbestätte unmissverständlich verurteilen. Sie sollte ihren Einfluss geltend machen und die kambodschanische Regierung auffordern, diese Vertreibungen zu beenden, und auf eine öffentliche und unabhängige Untersuchung drängen», sagt Amnesty-Expertin Ferrer.«Wenn die Unesco nicht ernsthaft dagegen vorgeht, werden die Bemühungen um Konservierung von den Staaten zunehmend als Waffe für ihre eigenen Zwecke eingesetzt, und zwar auf Kosten der Menschenrechte».

Ein Ballon mit der Aufschrift «Angkor Wat» steigt über den Trümmern von Häusern in der Weltkulturerbestätte Angkor auf, März 2023. © Amnesty International