Illustration zur Krise in Myanmar © JC / Amnesty International
Illustration zur Krise in Myanmar © JC / Amnesty International

Myanmar Unter Lebensgefahr: Proteste in Myanmar gegen Militärjunta gehen weiter

22. April 2022
In Myanmars setzen Aktivist*innen trotz grosser Gefahren ihre friedlichen Proteste gegen die Militärjunta fort. Dabei setzen sie auf Kreativität – und Mut.

Vor einem Jahr, am 24. April 2021, einigte sich der ASEAN-Gipfel auf fünf Punkte, mit denen der Gewalt und Repression nach dem Putsch durch die Militärjunta vom 1. Februar 2021 in Myanmar Einhalt geboten werden sollte. In den ersten Monaten nach dem Putsch war es zu mehr als 700 Toten und über 3300 Verhafteten gekommen. Doch auch nach dem Fünf-Punkte-Konsens geht myanmarische Militär mit immer härterer Hand gegen Aktivist*innen und Oppositionelle vor.

Neue Protestformen

Doch die Aktivist*innen geben nicht auf. Sie weichen auf alternative Protestformen aus. Eine der beliebtesten Protestmethoden sind «Flashmobs», bei denen sie nur einige Minuten lang durch die Strassen gehen, bevor die Gruppe sich auflöst, um nicht erschossen, verhaftet oder von Militärfahrzeugen überfahren zu werden. Im ganzen Land protestieren die Menschen auch mit «stillen Streiks»: Sie schliessen ihre Geschäfte und Unternehmen und bleiben zu Hause. Die leeren Strassen sind ein Zeichen gegen die Militärherrschaft.  

Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen verteilen Flugblätter in Bussen, benutzen Aufkleber, Plakate und Spraydosen, um Botschaften gegen das Militär an Wände anzubringen und rufen zum Boykott von Waren und Dienstleistungen auf, die mit dem Militär in Verbindung stehen.

«Es braucht ein weltweites Waffenembargos, um das Militär in Myanmar daran zu hindern, Kriegswaffen zur Tötung von Demonstrant*innen einzusetzen.» Emerlynne Gil, stellvertretende Regionaldirektorin für Recherchebei Amnesty International

Amnesty International sprach in den letzten Monaten ausführlich mit 17 Personen, die sich weiterhin an gewaltfreien Protesten in fünf Bundesstaaten und Regionen Myanmars beteiligen. Sie gehören einer Vielzahl von Protestgruppen an, darunter auch LGBTI*- und Frauenrechtsorganisationen. «Diese Aktivist*innen brauchen dringend die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, zum Beispiel in Form eines weltweiten Waffenembargos, um das Militär in Myanmar daran zu hindern, Kriegswaffen zur Tötung von Demonstrant*innen einzusetzen», sagte Emerlynne Gil, stellvertretende Regionaldirektorin für Recherchebei Amnesty International. 

Ungehörte Appelle

Schon in den Tagen unmittelbar nach dem Staatsstreich hatten Amnesty International und viele andere Menschenrechtsgruppen das Militär aufgefordert, die Anwendung unrechtmässiger und tödlicher Gewalt gegen friedliche Demonstranten einzustellen und sich an das Völkerrecht zu halten.

Diese Appelle blieben ungehört. Nach Angaben der Assistance Association for Political Prisoners wurden seit der Machtübernahme durch das Militär mehr als 1700 Menschen getötet und mehr als 13’000 inhaftiert. Die Gewalt hat seither viele dazu veranlasst, sich bewaffneten Widerstandsgruppen anzuschliessen, die im ganzen Land aktiv sind.

Zeug*innen berichten von Schüssen und Schlägen. Auch sei versucht worden, mit Fahrzeugen in die demonstrierenden zu fahren.

Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, die Amnesty International Auskunft gaben, berichteten, dass sie während der Demonstrationen Zeug*innen von Übergriffen des Militärs wurden oder diese selbst erlebt haben, darunter Schüsse und Schläge. Auch sei versucht worden, mit Fahrzeugen in die Demonstrierenden zu fahren.

Das brutale Vorgehen des Militärs hatte einen enormen Einfluss auf die gewaltfreie Protestbewegung. In der zweiten Hälfte des Jahres 2021 ging die Zahl der Proteste auf den Strasse deutlich zurück. 

«Unsere Zahl ist von Zehntausenden auf Tausende, von Tausenden auf Hunderte und dann auf etwa Zwanzig zurückgegangen», sagte Thiri*, eine Universitätsstudentin in Mandalay, die nach eigenen Angaben vor dem Putsch kein Interesse an Politik hatte, jetzt aber eine der Anführerinnen einer Frauenprotestgruppe ist.

Einige der Aktivist*innen sagten, dass sie sich nun absichtlich in kleineren Gruppen organisierten, um die Sicherheit aller zu gewährleisten. Es sei zu gefährlich geworden, in grösserer Zahl auf die Strasse zu gehen, sagt auch Rina, eine Universitätsstudentin und Mitglied des Generalstreikkomitees in Yangon. Sie hatte am 5. Dezember 2021 mit etwa 20 anderen Personen an einem Flashmob teilgenommen und erzählte Amnesty International, dass ein Militärlastwagen direkt in die Gruppe hineingefahren sei, als sie sich versammelten. «Als ich rannte, sah ich, dass einige der anderen Teilnehmer*innen des Flashmob vom Militärlastwagen angefahren wurden und am Boden lagen.»

Auch in anderen Städten fuhr das Militär mit Fahrzeugen in protestierende Menschen. Oder es wird direkt geschossen. Seit März letzten Jahres organisiert der Dichter und Ingenieur Yar Zar regelmässige Proteste in den Dörfern Salingyi und Yinmarbin in der Region Sagaing. Er war bei zwei Demonstrationen dabei, als Soldaten und Polizisten das Feuer auf die Menge eröffneten. Um die Konfrontation mit der Armee zu vermeiden, bereiten er und sein Team die Protest-Routen entlang enger, unbefestigter Strassen vor. Freiwillige würden als Späher*innen die Route überprüfen und sicherstellen, dass sie frei ist, bevor sie losgehen. «So können wir dem Militär ausweichen. Sobald sie vorbeigezogen sind, beginnen wir unseren Protest erneut», sagte Phyu, ein Anführer der Dorfproteste in der Gemeinde Thayetchaung in der Region Tanintha-ryi.

Überwachung und Bespitzelung

Viele Aktivist*innen schilderten Amnesty International, wie sie sich ständig von zivilen Informant*innen, den so genannten Dalans, oder von Militärangehörigen und Polizeikräften in Zivilkleidung mit nicht gekennzeichneten Fahrzeugen beobachtet und verfolgt fühlten.

Myat Min Khant von der «All Burma Federation of Student Unions» sagte, dass sich Militärs und Polizist*innen als Obstverkäufer*innen oder Taxifahrer*innen tarnen  und so durch die Strassen ziehen, um sich unter die Bevölkerung zu mischen. Auf diesem Wege stellen sie fest, wer es wagt, eine abweichende Meinung zu äussern. 

Militärs und Polizist*innen tarnen sich als Obstverkäufer*innen oder Taxifahrer*innen, um sich unter die Bevölkerung zu mischen.

Es werden auch Überwachungskameras eingesetzt, um die Aktivist*innen zu verfolgen. Ausserdem gibt es zahlreiche Kontrollpunkte und Check-Points in den Städten des Landes, an denen Menschen willkürlich angehalten und durchsucht werden.

Die meisten der Aktivist*innen, die mit Amnesty International sprachen, gaben an, dass sie ihre Häuser und Wohnungen aus Sicherheitsgründen verlassen haben und in Verstecken leben. Viele von ihnen konnten seit Februar 2021 nicht mehr nach Hause zurückkehren. Es wird aber immer schwieriger, sichere Verstecke zu finden, nicht zuletzt wegen der Spitzel. «Wenn ich nach Hause zurückkehre, kann es sein, dass das Militär auf mich wartet, um mich zu verhaften», sagte Nan Lin von der University Students' Union Alumni Force. «Selbst meine Familienangehörigen wissen nicht, wo ich mich aufhalte.»

Bedrohung von Angehörigen

In vielen Fällen wurden Familienmitglieder und Angehörige von Aktivist*innen verhaftet und eingesperrt, wenn es ihnen nicht gelang, die gesuchten Personen ausfindig zu machen und festzunehmen. Laut Medienberichten sind darunter auch die 94-jährige Mutter eines Politikers oder die vierjährige Tochter eines Aktivisten.

Im April 2021 durchsuchten Militärs und die Polizei das Haus von Arkar, einem untergetauchten Aktivisten. «Weil sie mich nicht finden konnten, haben sie meine Mutter verhaftet», erzählt er. «Ich bekam einen Anruf von der Polizei. Man sagte mir, ich solle mich stellen, damit meine Mutter freigelassen werde.» Arkar stellte sich nicht, und seine Verwandten konnten am nächsten Tag gegen Zahlung eines Schmiergeldes die Freilassung seiner Mutter erwirken.

Im November 2021 versuchte das Militär, das Haus einer anderen Protestführerin zu stürmen, die untergetaucht war: «Als sie ankamen, begannen sie zu schiessen, aber sie gingen fälschlicherweise in das Haus unseres Nachbar*innen. Eine Frau wurde durch die Schüsse getötet.» Ihre Familie konnte fliehen, aber sie hat sich seitdem nicht mehr bei der Familie gemeldet, um deren Leben nicht noch weiter zu gefährden. Derzeit zieht sie von Ort zu Ort und sagt, sie könne aus Angst vor einer Verhaftung oft nicht schlafen. 

Dennoch ist sie entschlossen, weiterhin Proteste zu organisieren. «Ich kann angesichts der Ungerechtigkeiten nicht nichts tun», sagte sie Amnesty International. Diese Entschlossenheit, weiter zu protestieren, wird von vielen geteilt.

Aktivist*innen sagten gegenüber Amnesty, sie würden ihre Proteste fortsetzen, um Menschen im Lande zum Handeln zu inspirieren und ihnen Hoffnung zu geben. «Wir machen weiter, auch wenn unser Leben in Gefahr ist.  Wir werden die Welt weiterhin um Unterstützung bitten, denn in Myanmar tötet die Militärjunta weiterhin Menschen», bringt es Zin Mar, der Protestführer aus Monywa, auf den Punkt. 

 

*In mehreren Fällen wurden auf Wunsch der Interviewpartner Pseudonyme verwendet.