«Es liegen erdrückende Beweise dafür vor, dass die pakistanischen Blasphemiegesetze gegen die Menschenrechte verstossen und Zivilpersonen dazu ermutigen, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Sobald Anschuldigungen erhoben werden, finden sich die Betroffenen in einem System wieder, das ihnen nur wenige Schutzgarantien bietet, ihre Unschuld nicht voraussetzt und sie nicht vor Gewalt schützt», so Audrey Gaughran, Leiterin der Abteilung Globale Themen von Amnesty International.
Der neue Amnesty-Bericht «‘As good as dead‘: The impact of the blasphemy laws in Pakistan» zeigt auf, dass Personen, denen in Pakistan Blasphemie vorgeworfen wird, ihre Unschuld nur unter grössten Schwierigkeiten beweisen können. Selbst wenn sie freigesprochen und – in aller Regel nach langen Verzögerungen – aus dem Gewahrsam entlassen werden, befinden sich die Betroffenen unter Umständen weiterhin in Lebensgefahr.
Sobald eine Person der Blasphemie beschuldigt wird, kann sie von der Polizei ohne Überprüfung der Fakten festgenommen werden. Angesichts aufgebrachter Menschenmengen, darunter auch Geistliche und deren UnterstützerInnen, übergibt die Polizei die Fälle oft ohne Prüfung der Beweislage an die Staatsanwaltschaft. Sobald Anklage erhoben wurde, kann den Betroffenen die Freilassung gegen Kaution verweigert werden, und ihnen drohen lange und unfaire Gerichtsverfahren.
Häufig wird den Betroffenen Gewalt angedroht, weil sich bestimmte Gruppen oder Einzelpersonen berechtigt fühlen, Selbstjustiz zu üben und die Beschuldigten und/oder andere ihnen nahestehende Personen – z. B. Rechtsbeistände, Familienangehörige, Gemeindemitglieder – zu bedrohen oder zu töten.
Aus dem Bericht geht zudem hervor, dass auch Personen wie Rechtsbeistände, PolizistInnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen sowie andere Bedienstete des Strafjustizsystems in einem Klima der Angst operieren, was sie daran hindert, ihre Arbeit wirksam, unparteiisch und angstfrei zu erledigen.
Der Bericht zeigt deutlich, dass die pakistanischen Blasphemiegesetze oft missbraucht werden und Menschenrechtsverstössen Vorschub leisten. Sie verstossen gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Pakistans zur Achtung und zum Schutz von Menschenrechten wie dem Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäusserung. Amnesty International fordert die Aufhebung dieser Gesetze und erwartet, dass alle neu eingeführten Gesetze in vollem Umfang mit dem Völkerrecht und internationalen Normen konform gehen.
In dem Bericht wird dokumentiert, wie diese Gesetze gegen die schutzbedürftigsten Gruppen der Gesellschaft eingesetzt werden, so zum Beispiel gegen in Armut lebende Menschen und Kinder sowie gegen Personen mit geistigen Beeinträchtigungen und Angehörige religiöser Minderheiten.
Laut einer Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs Pakistans «basieren die meisten Blasphemiefälle auf falschen Anschuldigungen» und werden aus niederen Beweggründen zur Anzeige gebracht. Solche Beweggründe werden von den Behörden nur selten untersucht. Bei ihnen handelt es sich wahlweise um berufliche Rivalitäten, persönliche Auseinandersetzungen, religiöse Streitigkeiten oder die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile.
«Die in dem Bericht beschriebenen Fälle zeigen eindrucksvoll auf, dass die vage formulierten Gesetze unzulängliche Schutzmechanismen bieten und leicht instrumentalisiert werden können. Indem falsche Anschuldigungen zugelassen werden, wird der Beschwerdeführer favorisiert und der Beschuldigte, dessen Schuld vorausgesetzt wird, gefährdet. Der Amnesty-Bericht enthält eine Reihe von Empfehlungen an die Behörden. Sie sollten diese Gesetze aufheben und umgehend Schutzgarantien einführen, um fragwürdige strafrechtliche Verfahren zu verhindern», so Audrey Gaughran.
Mädchen mit Lernbehinderung fälschlich beschuldigt
Rimsha Masih, ein Mädchen christlichen Glaubens mit Lernbehinderung, war 14 Jahre alt, als sie von einem örtlichen Geistlichen der Blasphemie beschuldigt wurde, weil sie Seiten aus dem Koran verbrannt haben soll.
Sie wurde daraufhin trotz ihrer Minderjährigkeit und ihrer Lernbehinderung festgenommen und angeklagt.
Nach einem dreimonatigen medienintensiven Verfahren hob das Hohe Gericht von Islamabad die Anklage auf und urteilte, dass die Anschuldigungen gegen Rimsha Masih haltlos seien und eine weitere Strafverfolgung zur Instrumentalisierung der Gerichte führen würde.
Rimsha Masih floh mit ihrer Familie nach Kanada, wo ihnen Asyl gewährt wurde.
Anwalt bedroht und getötet
Rashid Rehman war ein bekannter Menschenrechtsanwalt und einer der wenigen, die den Mut besassen, Menschen in Blasphemiefällen vor Gericht zu vertreten.
Am 8. Mai 2014 wurde Rashid Rehman in seinem Büro von zwei Unbekannten erschossen. Tags darauf wurden vor verschiedenen Anwaltskanzleien in der Grossstadt Multan in der Provinz Punjab Flugzettel gefunden, auf denen stand, dass Rashid Rehman getötet wurde, weil er versucht habe, «einen Gotteslästerer zu retten».
Nur einen Monat vor dem Mord an Rashid Rehman war er öffentlich vor Gericht bedroht worden. Vor zahlreichen AugenzeugInnen drohte man ihm: «Beim nächsten Termin wirst du nicht vor Gericht erscheinen, weil du dann nicht mehr existierst.» Die Personen, die ihm im Gerichtssaal gedroht hatten, wurden bei der Untersuchung seiner Tötung nicht von der Polizei vernommen.
Rashid Rehman hatte die Verteidigung von Personen, denen Blasphemie vorgeworfen wurde, ein «Spiel mit dem Tod» genannt. Viele Rechtsbeistände lehnen Blasphemiefälle aufgrund des hohen Risikos ab.
In einem Fall versuchte die Familie eines Beschuldigten lange erfolglos, einen Rechtsbeistand zu finden, bis sich schliesslich jemand gegen eine hohe Gebühr bereit erklärte, den Angeklagten zu verteidigen. Dieser Rechtsbeistand wurde vor Gericht verprügelt. Daraufhin brach er den Kontakt mit der Familie ab und gab die Verteidigung seines Mandanten auf.
Christliches Pärchen verbrannt
Shama und Shahzad Masih waren christlichen Glaubens und lebten mit ihren drei Kindern in der Ortschaft Kot Radha Kishan in Punjab. Sie arbeiteten beide unter harten Bedingungen in einer nahegelegenen Ziegelhütte. An einem durchschnittlichen Arbeitstag arbeiteten sie 18 Stunden und erhielten lediglich 6,60 US-Dollar (6,30 Euro) pro Tausend angefertigter Backsteine.
Im November 2014 starb der Schwiegervater von Shama Masih, die damals im fünften Monat schwanger war. Shama Masih verbrannte seine Sachen, wie es in dieser Gegend Pakistans üblich ist.
Daraufhin machte das Gerücht die Runde, dass Shama Masih auch Seiten des Koran verbrannt habe. Die Vorwürfe erhärteten sich, als Geistliche in Nachbardörfern über ihre Moscheenlautsprecher ausriefen, Shama und Shahzad Masih sollten «verbrannt werden, genauso wie sie das [Heilige Buch] verbrannt haben».
Schnell versammelten sich Hunderte aufgebrachte Personen vor der Ziegelhütte. Sie fanden Shama und Shahzad Masih in einem kleinen Zimmer, in dem sie von einem Geldverleiher eingesperrt worden waren, weil sie ihm Geld schuldeten. Das Pärchen wurde nach draussen geschleppt.
Obwohl fünf PolizistInnen anwesend waren, griffen diese nicht ein. Sie rechtfertigten dies damit, dass sie zahlenmässig unterlegen und die Menschenmenge gewaltbereit gewesen sei. Shama und Shahzad Masih wurden wiederholt geschlagen und dann in einen der Ziegelbrennofen gestossen und verbrannt.
Laut der Familie von Shahzad Masih nahm die Polizei später mehr als 100 Personen fest. Der pakistanische Premierminister Nawaz Sharif verurteilte den Mord an dem Pärchen, und sein Bruder Shahbaz Sharif, der Regierungschef der Provinz Punjab, besuchte das Dorf, um der trauernden Familie sein Mitgefühl auszusprechen.
Am 23. November 2016 wurden fünf Männer vor einem Gericht für terrorismusbezogene Strafsachen wegen ihrer Beteiligung an dem Mord zum Tode verurteilt. Amnesty International fordert zwar, dass für Straftaten Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden, und ein Ende der Straffreiheit, wendet sich jedoch ausnahmslos gegen die Todesstrafe.
Das Versagen der Behörden, rechtzeitig vor Eskalierung der Gewalt einzugreifen, ist in ganz Punjab ein typisches Muster. Oft weiss die Polizei, dass schutzbedürftige religiöse Minderheiten bedroht werden, greift jedoch angesichts einer von wütenden Geistlichen angestachelten Menschenmenge nicht entschieden ein.