Russische Soldaten der Friedenstruppen Ende 2022 am blockierten Laschin-Korridor in der Nähe von Shusha. © Aykhan Zayedzadeh / CC
Russische Soldaten der Friedenstruppen Ende 2022 am blockierten Laschin-Korridor in der Nähe von Shusha. © Aykhan Zayedzadeh / CC

Aserbaidschan/Armenien Blockade des Latschin-Korridors gefährdet Tausende Menschenleben

6. März 2023
Seit Dezember 2022 wird der Latschin-Korridor von aserbaidschanischen Protestierenden blockiert. 130'000 ethnische Armenier*innen in Bergkarabach sind seither von grundlegenden Gütern und Dienstleistungen wie lebensnotwendigen Medikamenten abgeschnitten.

Der sogenannte Latschin-Korridor ist die einzige Strasse, die die Region Bergkarabach mit Armenien verbindet. Seit dem 12. Dezember 2022 ist die Strasse blockiert. Aserbaidschan verstösst gegen seine menschenrechtlichen Verpflichtungen, wenn es keine Massnahmen ergreift, um die Blockade zu beenden.

Die anhaltende Blockade des Latschin-Korridors gefährdet die Leben Tausender Menschen in der selbsternannten Republik in der Region Bergkarabach, erklärte Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation forderte die aserbaidschanischen Behörden und die russischen Friedenstruppen auf, die Route unverzüglich freizugeben und der sich ausweitenden humanitären Krise ein Ende zu bereiten. 

Kein Zugang zu Grundversorgung

Die Strasse, die Bergkarabach mit Armenien verbindet, wurde am 12. Dezember 2022 von Dutzenden aserbaidschanischen Protestierenden blockiert. Seither ist sie für den zivilen wie den gewerblichen Verkehr unpassierbar. Es wird davon ausgegangen, dass die Proteste von den aserbaidschanischen Behörden unterstützt werden. Die Blockade führte dazu, dass etwa 130’000 ethnische Armenier*innen in Bergkarabach keinen Zugang mehr zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen haben – auch nicht zu lebensnotwendigen Medikamenten und medizinischer Versorgung.  

Wie Interviews mit Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen und Anwohner*innen in der Region zeigen, sind die Auswirkungen der Blockade für gefährdete Gruppen wie Frauen, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen besonders hart.  

Eine ältere intern Vertriebene ist in dieser Unterkunft in Baku untergekommen. © Ahmed Muxtar / Amnesty International

«Die Blockade hat zu einem schwerwiegenden Mangel an Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern geführt, denn die vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und russischen Friedenstruppen bereitgestellte humanitäre Hilfe reicht nicht aus, um den Bedarf zu decken. Unterbrechungen der Strom-, Gas- und Treibstoffversorgung sorgen für eine weitere Verschärfung der Lage. Das betrifft insbesondere Gruppen, die Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Das muss sofort ein Ende haben», sagt Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International. 

«Die aserbaidschanischen Behörden haben die international anerkannte Souveränität über diese Region. Sie üben die Kontrolle über das Gebiet aus, vom dem aus die Blockade durchgeführt wird. Aserbaidschan ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung in Bergkarabach Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen wichtigen Gütern und Medikamenten behält. Die russische Friedensmission wiederum hat den Auftrag, die Sicherheit des Latschin-Korridors zu gewährleisten. Beide Parteien kommen ihren Verpflichtungen jedoch offensichtlich nicht nach.» 

Nach Angaben von De-facto-Beamt*innen aus Bergkarabach ist die Zahl der in der Region ankommenden Fahrzeuge seit Beginn der Blockade von 1.200 pro Tag auf fünf bis sechs Lastwagen der russischen Friedensmission und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zurückgegangen.  

Es fehlt an Medikamenten und medizinischer Versorgung 

Die medizinische Versorgung hat sich in der blockierten Region zum dringlichsten Problem entwickelt. Es fehlt an Medikamenten und medizinischen Gütern ebenso wie an Treibstoff, um Patient*innen ambulant versorgen zu können. Besonders ernst ist die Lage für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, von denen viele unter chronischen Krankheiten leiden. Sie können kaum noch oder gar nicht mehr medizinisch versorgt werden.

Vardan Lalayan, ein Kardiologe am Krankenhaus in Stepanakert (Khankendi), hat vor der Blockade monatlich 30 bis 40 Patient*innen – meist ältere Menschen – behandelt. Jetzt sind es nur noch fünf oder sechs pro Monat, meist Personen, die nach einem Herzinfarkt akut versorgt werden müssen. Wie Vardan Lalayan Amnesty International berichtete, können die meisten Patient*innen, die zum Beispiel eine Stent-Untersuchung benötigen, aufgrund der unzureichenden Versorgung mit Stents und anderen medizinischen Hilfsmitteln oft nicht die erforderliche Behandlung erhalten. Stents sind medizinische Implantate, die verschlossene oder verengte Blutgefässe offenhalten.

«Wir führen derzeit nur noch zehn Prozent der Eingriffe durch. [...] Es wird eine sehr grosse Zahl an Herzinfarkten zu Hause geben. Wir verlieren jeden Tag viele Menschen, viele Patienten.» Vardan Lalayan, Kardiologe am Krankenhaus in Stepanakert

Die Neurologin Biayna Sukhudyan berichtete Amnesty International Folgendes: «Vor einer Woche hatten wir ein Kind mit Epilepsie, das dringend Medikamente benötigte. Aber wir hatten keine, niemand hatte welche, der Vorrat war aufgebraucht. [...] Nach einer Woche, nach Verhandlungen mit dem Roten Kreuz war es möglich, das Kind zur Behandlung nach Jerewan zu schicken.»  

Vardan Lalayan zufolge bringt das IKRK nur Personen, deren Zustand «stabil» ist, in Einrichtungen ausserhalb der Region, in denen eine Behandlung eventuell möglich ist. Patient*innen aus seinem Krankenhaus, die sich in einem kritischen Zustand befanden, mussten in einer Gesundheitseinrichtung verbleiben, in der keine angemessene Versorgung zur Verfügung stand. Diese führte zu mehreren vermeidbaren Todesfällen. Viele Patient*innen zögern auch, den Transport in Anspruch zu nehmen. Dies bedeutet oft, für längere, unbestimmte Zeit von ihren Familien getrennt zu sein – ohne die Gewissheit, zurückkehren zu können. 

Auch die Gesundheit von Frauen und Müttern ist aufgrund des Mangels an medizinischer Versorgung ernsthaft gefährdet. Meline Petrosyan, eine im achten Monat schwangere Frau aus Martakert (Ağdərə), berichtete Amnesty International: «Die Entbindungsstation war voll, aber es fehlten Medikamente, Hygieneartikel, Babybedarf, Windeln und Milchpulver. Wegen der Stromausfälle war es im Krankenzimmer häufig kalt. Es konnte nur ein Brutkasten betrieben werden, und so mussten sich drei Frühgeborene darin abwechseln. Wenn ich an all die Unwägbarkeiten einer Geburt unter diesen Bedingungen denke, bekomme ich grosse Angst.» 

Beschäftigte im Gesundheitswesen, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen berichteten, dass der Zugang zu Medikamenten für chronische Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Epilepsie und Asthma sowie zu Schmerzmitteln und Antibiotika sehr viel schwieriger oder unmöglich geworden sei. Viele Apotheken in Bergkarabach seien ganz geschlossen. Wenn sie Medikamente finden konnten, waren diese aufgrund der Blockade erheblich teurer, so dass die Menschen gezwungen waren, die Dosierung zu reduzieren.  

Nahrungsmittel- und Treibstoffknappheit

Da die Blockade zu einer Nahrungsmittelknappheit geführt hat, sahen sich die De-Facto-Behörden Anfang Januar gezwungen, ein Rationierungssystem einzuführen. Von Anwohner*innenseite hiess es: «Jede Person kann ein halbes Kilo Reis, Nudeln und einen Liter Öl und etwas Zucker bekommen.» Sie Ausgabe sei unabhängig vom Alter auf ein Kilo beziehungsweise einen Liter pro Monat und Person beschränkt ist. Wie die Befragten angaben, hätten diese Massnahmen zwar dazu beigetragen, dass die Preise für Grundnahrungsmittel nicht in die Höhe geschnellt sind, allerdings seien frisches Gemüse und Obst aus den Regalen der Geschäfte verschwunden. Für Milch und Eier bildeten stattdessen lange Warteschlangen, sobald diese verfügbar seien. 

Aus Gesprächen von Amnesty International mit Anwohner*innen ging hervor, dass Frauen bei der Lebensmittelverteilung häufig anderen Familienmitgliedern Vorrang vor sich selbst gaben. Von Amnesty International befragte Beschäftigte im Gesundheitswesen verwiesen auf eine erhebliche Zunahme an Fällen von Immunschwäche, Anämie, Schilddrüsenerkrankungen und Diabetes bei Frauen und Kindern als unmittelbare Folge der Nahrungsmittelknappheit. 

«Wir hatten jetzt seit mehr als einem Monat kein Obst oder Gemüse mehr. Wenn ich etwas zu essen finde, sorge ich dafür, dass meine Kinder zuerst etwas bekommen, ich nehme dann einfach das, was übrig bleibt.» Nara Karapetyan, zweifache Mutter

Mehrere Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen in Bergkarabach berichteten Amnesty International, dass es bei immer mehr schwangeren Frauen zu Komplikationen kommen würde und die Zahl der Fehl- und Frühgeburten zugenommen hätte. Schwangeren Frauen fehle demnach der Zugang zu wichtigen Medikamenten und zu den während der Schwangerschaft benötigten Nährstoffen. 

Menschen mit Behinderungen, darunter auch Personen mit eingeschränkter Mobilität, gaben an, stärker unter der Isolation während der Blockade zu leiden, da sie wegen des Treibstoffmangels weder öffentliche noch private Verkehrsmittel nutzen können. Yakov Altunyan ist auf einen Rollstuhl angewiesen, seit er in den 1990er Jahren auf eine Mine trat und ihm beide Beine amputiert werden mussten. «Trotz meiner Verletzung habe ich immer versucht, rauszugehen und unter die Leute zu kommen, denn in diesen vier Wänden fühle ich mich wie in einem Gefängnis. […] Nicht in der Lage zu sein, Auto zu fahren, andere Menschen zu sehen und mit ihnen zu sprechen, macht mir das Leben sehr schwer», sagte er Amnesty International.  

Am 11. Oktober 2020 kamen bei einem Raketenangriff des armenischen Militärs auf die Stadt Ganja in Aserbaidschan Zivilist*innen ums Leben, so der Sohn und die Schwiegertochter dieses Mannes. © Amnesty International

Verschärfung der humanitären Krise 

Eine weitere schwerwiegende Folge der Blockade ist die Verletzung des Rechts auf Bildung. Alle Schulen und Kindergärten, die von rund 27.000 Kindern besucht werden, wurden wegen der fehlenden Heizmöglichkeiten und der Stromausfälle vorübergehend geschlossen. Zwar wurden die Schulen am 30. Januar 2023 zum Teil wieder geöffnet, doch ist der Unterricht auf vier Stunden täglich begrenzt. 

1100 Einwohner*innen von Bergkarabach, darunter mindestens 270 Kinder, sind zu Beginn der Blockade ausserhalb der Region gestrandet und können nicht nach Hause zurückkehren. Sie sind in Hotels oder bei Verwandten und Freiwilligen in Armenien untergebracht.  

Die Gas- und Benzinknappheit wird noch verschärft durch häufige Unterbrechungen der Gaslieferungen aus Aserbaidschan und Stromausfälle an durchschnittlich sechs Stunden pro Tag. 

«Die Blockade ist nun schon in der neunten Woche, und alle Augen sind auf die aserbaidschanischen Behörden und die russischen Friedenstruppen gerichtet. Wir fordern beide Seiten auf, unverzüglich wirksame Massnahmen im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards zu ergreifen, um die Blockade des Latschin-Korridors ohne weitere Verzögerung aufzuheben und der sich ausweitenden humanitären Krise ein Ende zu setzen», so Marie Struthers. 

Hintergrund 

Amnesty International hat 16 Telefoninterviews mit De-facto-Beamt*innen, Beschäftigten im Gesundheitswesen und Anwohner*innen aus Bergkarabach geführt, unter denen sich auch ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen befanden. In dieser abtrünnigen Region Aserbaidschans, die 1991 ihre Unabhängigkeit als Republik Arzach erklärte, leben vor allem ethnische Armenier*innen.  

Im September 2020 brach zwischen Aserbaidschan und Armenien ein Krieg um das Gebiet von Bergkarabach aus, in dessen Verlauf beide Seiten Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, auch Kriegsverbrechen, begingen. Nach einem von Russland vermittelten trilateralen Abkommen vom 10. November 2020 erlangte Aserbaidschan die Kontrolle über grosse Teile der selbsternannten Republik zurück und konnte so erfolgreich dessen Verbindungen zu Armenien kappen. Wie im Waffenstillstandsabkommen vereinbart, blieb der sogenannte Latschin-Korridor die einzige Strasse, die Bergkarabach mit Armenien verbindet. Ihre Sicherheit sollte durch die russischen Friedenstruppen gewährleistet werden.