«1995 schaute die Welt weg, als das schlimmste Verbrechen auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg begangen wurde», erinnert Stella Jegher von Amnesty International Schweiz. «Zwei Jahrzehnte später warten die Familien der Opfer dieses Völkermords noch immer auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Das ist beschämend.»
Am 10. und 11. Juli 1995 griff die bosnisch-serbische Armee unter der Führung von General Ratko Mladić die Uno-Schutzzone Srebrenica im Osten von Bosnien und Herzegowina an – unter den Augen der dort stationierten Uno-Soldaten. In den folgenden Tagen wurden mehr als 8000 Menschen, vor allem Männer und Jungen, ermordet und in Massengräbern verscharrt. Fast 7000 Opfer wurden seither exhumiert, identifiziert und begraben. Darunter 421 Kinder, eines davon ein Neugeborenes, und eine 94-jährige Frau. Rund 1000 Opfer konnten noch nicht gefunden und identifiziert werden.
Schleppende Aufklärung
Die Hauptverantwortlichen dieses Genozids, Radovan Karadžić, Ratko Mladić und Slobodan Milošević, wurden vor das Uno-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien gestellt, und auch 74 weitere Personen wurden von diesem Gericht verurteilt. Doch die Aufklärung zahlreicher weiterer Fälle steht noch aus. Die Strafverfolgung internationaler Kriegsverbrechen auf nationaler Ebene geht nur sehr langsam voran. Die grosse Mehrheit der mutmasslichen Kriegsverbrecher läuft noch immer straflos herum – in der Gewissheit, dass sie nicht belangt werden, solange der politische Wille nicht da ist.
In Bosnien und Herzegowina erkennt die offizielle Politik den Völkermord nicht als solchen an, nicht einmal Schulbücher enthalten Hinweise auf das Geschehene. Der Versöhnungsprozess geht nicht voran, das Land bleibt ethnisch gespalten. «Je länger aber die Schuldigen auf freiem Fuss und die Toten in den Massengräbern bleiben, desto länger wird ‹Srebrenica› als schwärende Wunde anhaltende ethnische Spaltungen befördern», warnt Stella Jegher.
Fehlende Ressourcen
Wenngleich Bosnien und Herzegowina Anstrengungen unternommen hat, die Ressourcen für die Verfolgung von Kriegsverbrechen aufzustocken, reichen die Gelder noch längst nicht aus, und der Regierung gelingt es nur sehr langsam, ihre Nationale Strategie zur Verfolgung von Kriegsverbrechen umzusetzen. Es braucht weitere Untersuchungs- und Strafverfolgungsprozesse, gleichzeitig muss der Zeuginnen- und Zeugenschutz gewährleistet werden.
«Srebrenica erinnert uns nicht nur an moralische Verderbtheit, sondern auch an die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, einen Völkermord zu verhindern, der vor den eigenen Augen geschieht», so Jegher. «Umso mehr muss die Internationale Gemeinschaft jetzt mit Nachdruck auf die Aufklärung der Verbrechen dringen und den zuständigen Behörden Unterstützung anbieten, damit das Schicksal der Verschwundenen endlich aufgeklärt und die Verantwortlichen zu Rechenschaft gezogen werden.»
Russlands Veto
Diese Woche verhinderte das Veto Russlands die Verabschiedung einer Srebrenica-Resolution im Uno-Sicherheitsrat. «Russland verhöhnte damit die Angehörigen der Opfer», sagt Jegher. «Es ging in der Resolution um mehr als um die Anerkennung des Massakers als Genozid. Es ging auch um die langfristige Unterstützung für die Überlebenden, auch der Überlebenden von sexualisierter Gewalt, und um die Aufklärung des Schicksals der immer noch mehr als 8000 Vermissten des Krieges in Bosnien.»
Lesen Sie auch den Blog von Steve Crawshaw,. Er war Anfang der 90er Jahre als Journalist für die britische Tageszeitung The Independent in Srebrenica und leitet heute das Büro des Generalsekretärs von Amnesty International am Hauptsitz in London (Blog in dt. Übersetzung).
Medienmitteilung, London/Bern 11. Juli 2015
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