Am 25. November 2018 protestierten in Kopenhagen Frauen und Mädchen über die Definition von Vergewaltigung im Strafgesetz. © Jonas Persson
Am 25. November 2018 protestierten in Kopenhagen Frauen und Mädchen über die Definition von Vergewaltigung im Strafgesetz. © Jonas Persson

Sexuelle Gewalt in Dänemark Vergewaltiger kommen häufig straffrei davon

Medienmitteilung 5. März 2019, Kopenhagen/Bern – Medienkontakt
Dänemark gilt als Vorbildnation in Sachen Gleichstellung der Geschlechter. Doch das Land hat eine der höchsten Vergewaltigungsraten in ganz Europa. Ein neuer Bericht von Amnesty International deckt auf, wie eine mangelhafte Gesetzeslage und weitverbreitete Vergewaltigungsmythen und Geschlechterstereotype dazu führen, dass Vergewaltiger in Dänemark meist straffrei ausgehen.

Der Bericht «Give us respect and justice! Overcoming barriers to justice for women rape survivors in Denmark» belegt, dass Frauen und Mädchen, die ihre Vergewaltigung anzeigen, häufig vor Gericht scheitern, da die rechtliche Definition von Vergewaltigung veraltet und zu eng gefasst ist. In den allermeisten Fällen werden Vergewaltigungen jedoch gar nicht erst angezeigt. Die Betroffenen befürchten, dass man ihnen nicht glaubt, ausserdem haben sie Angst vor einer Stigmatisierung.

«Es ist ganz einfach: Sex ohne Einwilligung ist Vergewaltigung. Solange dies rechtlich nicht anerkannt wird, bleiben Frauen weiterhin sexueller Gewalt ausgesetzt. Ausserdem fördert diese fehlende Anerkennung eine Kultur, in der dem Opfer die Schuld zugeschoben wird und in der der Täter straffrei ausgeht», sagt der Generalsekretär von Amnesty International Kumi Naidoo.

Die dänische Regierung hat kürzlich einen Versuch unternommen, Vergewaltigungsopfern den Zugang zur Justiz zu erleichtern. Trotzdem werden in Dänemark nur wenige Fälle angezeigt. Selbst wenn die Betroffenen zur Polizei gehen, ist die Wahrscheinlichkeit äusserst gering, dass die Täter belangt und verurteilt werden. Im Jahr 2017 wurden nur 890 Vergewaltigungen bei der Polizei angezeigt, obwohl die Zahl der tatsächlichen oder versuchten Vergewaltigungen weit höher geschätzt wird: Das Justizministerium spricht von 5100 Fällen, eine aktuelle Studie sogar von 24'000. Von den 890 angezeigten Fällen wurden 535 strafrechtlich verfolgt. Nur 94 Täter wurden verurteilt.

Tiefgreifende Vorurteile innerhalb des Justizsystems tragen massgeblich dazu bei, dass so wenige Täter verurteilt werden. Mangelndes Vertrauen in die Justiz, Selbstvorwürfe und die Angst, dass man ihnen nicht glaubt, halten viele Betroffene davon ab, Vergewaltigungen zur Anzeige zu bringen.

Verstörende Erfahrung

Die Grundlage des neuen Amnesty-Berichts bilden 18 Interviews mit Frauen und Mädchen, die älter als 15 Jahre sind und vergewaltigt wurden. Ausserdem kommen VertreterInnen von NGOs und relevanten Behörden sowie weitere ExpertInnen zu Wort. Die Ergebnisse der Befragungen machen deutlich, dass die Betroffenen, die den oder die Täter angezeigt haben, das Gerichtsverfahren und dessen Nachwirkungen häufig als stark traumatisierend erlebten.

Viele der Überlebenden einer Vergewaltigung sind mit Ablehnung, Schuldzuweisungen und Vorurteilen konfrontiert.

Viele der Überlebenden einer Vergewaltigung sind mit Ablehnung, Schuldzuweisungen und Vorurteilen konfrontiert. Einige der Interviewpartnerinnen berichteten Amnesty International, dass einer der Hauptgründe, von einer Strafanzeige abzusehen, Angst sei. Die Angst, dass die Polizei- oder Justizangehörigen ihnen nicht glauben, ihnen Vorwürfe machen oder sie blossstellen würden.

Die 39-jährige Journalistin Kirstine versuchte viermal, bei der Polizei eine Vergewaltigung anzuzeigen. Beim zweiten Versuch zeigte ihr ein Polizeibeamter eine Arrestzelle und warnte sie davor, dass sie bei einer Falschaussage ins Gefängnis kommen könnte. Kirstine beschrieb Amnesty International, wie sie bei der Anzeigenaufnahme erneut Angst, Scham und Demütigung durchlebte. Abschliessend meinte sie: «Wäre ich erst 20 Jahre alt gewesen, dann hätte ich nach dem ersten Versuch aufgegeben.»

Eine andere Frau sagte im Gespräch mit Amnesty International, dass sie sich von der Polizei eingeschüchtert gefühlt hätte: «Als 21-jährige Frau sass ich da zwei Polizisten gegenüber, die mir ins Gesicht sahen und mich fragen, ob ich wirklich sicher sei, dass ich das anzeigen wollte. Ich war für die einfach ein kleines Mädchen, das ‘behauptete’, vergewaltigt worden zu sein.»

Bei der Polizei gibt es Richtlinien für den Umgang mit Vergewaltigungsfällen. Doch in der Praxis werden diese nicht konsistent angewandt. Die Polizei hält sich oft weder an die Richtlinien noch an internationale Standards. Die Frauen und Mädchen, die ihre Vergewaltigung anzeigen, müssen eine lange Odyssee durch die Gerichte antreten.

Die Polizei hält sich oft weder an die Richtlinien noch an internationale Standards.

Emilie gab im Interview mit Amnesty International an, dass sie nie wieder zur Polizei gehen würde, wenn sie nochmals vergewaltigt würde: «Wenn sie dich vor Gericht so richtig auseinandernehmen, dann fühlt sich das so an, als wenn du alles nochmal durchmachen würdest. Am Ende hast du ein viel schlechteres Bild von dir selbst als vorher, du denkst, dass alles deine eigene Schuld war, dass du etwas falsch gemacht hast.»

Im Widerspruch zur Istanbul-Konvention

Dänemark hat zusammen mit diversen anderen europäischen Staaten – darunter auch die Schweiz – die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert. Darin ist festgelegt, dass eine Vergewaltigung und jede sexuelle Handlung mit einer anderen Person ohne gegenseitiges Einverständnis als Straftat gelten.

Der Rechtsbegriff der Vergewaltigung basiert in den meisten europäischen Ländern jedoch weiterhin auf Gewalt, Gewaltandrohung oder Nötigung. Diese Kriterien treffen auf den Grossteil der Vergewaltigungen gar nicht zu.

Von den 31 europäischen Ländern, deren Gesetzgebung Amnesty International untersucht hat, wird Vergewaltigung derzeit lediglich in acht Ländern als Sex ohne Einwilligung definiert. Dabei handelt es sich um Irland, Grossbritannien, Belgien, Zypern, Deutschland, Island, Luxemburg und Schweden. In einigen weiteren Ländern sind entsprechende Änderungen des Strafgesetzes geplant.

Straffreiheit auch in der Schweiz beunruhigend

In der Schweiz wurden im Jahr 2017 insgesamt 1273 Straftaten im Zusammenhang mit der Verletzung der sexuellen Integrität (sexuelle Nötigung und Vergewaltigung) von der Polizei registriert (Polizeiliche Kriminalstatistik 2017). Die Zahl der Konsultationen der Opferberatungshilfen wegen Verletzungen der sexuellen Integrität ist jedoch deutlich höher: 4269 Konsultationen wurden allein im Jahr 2017 durchgeführt. Das bedeutet, dass auch hierzulande zahlreiche Fälle nicht bei der Polizei angezeigt wurden.

«Viele Frauen verzichten aus Angst und Scham darauf, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Viel zu oft kommen die Täter straflos davon», sagt Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz. Im Jahr 2017 wurde nur die Hälfte der Angeklagten in der Schweiz schlussendlich wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung verurteilt.

Gleich wie in Dänemark gilt auch im Schweizer Strafgesetz anale, orale oder vaginale Penetration ohne Einwilligung nicht als Vergewaltigung (Art. 190 StGB). Für eine sexuelle Nötigung oder eine Vergewaltigung muss demnach immer ein Nötigungsmittel vorliegen: Der Täter muss eine Frau «bedrohen», «Gewalt anwenden», «sie unter psychischen Druck setzen» oder «zum Widerstand unfähig machen». Liegt kein Nötigungsmittel vor, gilt die Tat nicht als schweres Unrecht – selbst wenn ein Opfer klar Nein gesagt hat.

Das Schweizer Sexualstrafrecht entspricht nicht den internationalen Menschenrechtsnormen. Manon Schick, Geschäftsleiterin Amnesty Schweiz


«Das Schweizer Sexualstrafrecht entspricht nicht den internationalen Menschenrechtsnormen und steht im Widerspruch zur Istanbul-Konvention, die im April 2018 für die Schweiz in Kraft getreten ist», so Manon Schick.

Als problematisch erachtet Amnesty International Mythen und Stereotype rund um die Vergewaltigung, die die öffentliche Wahrnehmung aber auch das Justizsystem prägen. So wird fälschlicherweise angenommen, dass ein Opfer seine Einwilligung gegeben hat, wenn es sich körperlich nicht gewehrt hat. Dies ist zutiefst problematisch, da «Lähmungen» oder «Schockzustände» von ExpertInnen als eine sehr häufige physiologische und psychologische Antwort auf sexuelle Gewalt anerkannt wird. Die einseitige Konzentration in der Rechtspraxis auf Widerstand und Gewalt statt auf gegenseitige Einwilligung (Consent) wirkt sich negativ auf die Anzahl der Anzeigen und Verurteilungen von Vergewaltigungen aus.

«Bei Vergewaltigung handelt es sich um eine schwere Verletzung der Menschenrechte, die in jedem Fall als schwerwiegende Straftat zu behandeln ist», sagt Manon Schick.