Kein Ort für Kinder: Der «Dschungel» von Calais. © AIF
Kein Ort für Kinder: Der «Dschungel» von Calais. © AIF

Frankreich Hickhack um die Kinder von Calais

8. November 2016. Von Steve Symonds, Direktor von Amnesty UK Programm Flüchtlings- und Migrantenrecht
In den letzten Tagen gab es ein neues Zerwürfnis im Verhältnis zwischen Frankreich und Grossbritannien über der Frage, wer die Verantwortung für die Kinder in Calais übernehmen soll. Die beiden Regierungen haben einmal mehr diese Kinder im Stich gelassen und dabei deren Sicherheit und Wohlergehen aufs Spiel gesetzt.

In den vergangenen Wochen noch kam eine bedeutende Zahl an Kindern in Grossbritannien an. Viele wurden mit ihren Familien zusammengeführt, ein Resultat, das dem Dublin III Abkommen zu verdanken ist, das beide Staaten ratifiziert haben. Der Fortschritt wurde massgeblich durch das britische Innenministerium erzielt. Doch jetzt droht der jüngste Streit zwischen den Nachbarländern diese Fortschritte wieder zunichte zu machen.

Zu teilende Verantwortung

Vor dem Hintergrund des aktuellen Rückschritts forderte Amnesty International die beiden Regierungen schriftlich auf, die Rechte von allen Flüchtlingen und Asylsuchenden, die in Calais leben, zu respektieren, insbesondere ihr Recht auf Zugang zum Asylverfahren und auf Familienzusammenführung.

Während sich der politische Diskurs im Vereinigten Königreich vor allem auf die Verpflichtung Frankreichs gegenüber den Menschen auf ihrem Staatsgebiet konzentriert, stehen in Wahrheit beide Länder in der Pflicht. Der fortgesetzte beidseitige Widerwille, Verantwortung zu übernehmen, ist für eine Lösungsfindung überaus schädlich.

Diese geteilte Verantwortung endet nicht mit der rechtlichen Verpflichtung, Kindern und einigen erwachsenen Asylsuchenden die Familienzusammenführung in Grossbritannien zu erlauben. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die Uno-Flüchtlingskonvention von 1951 – welche von beiden Staaten unterzeichnet wurden – verpflichten die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen und sichere Plätze für Menschen bereit zu stellen, die vor Krieg und Verfolgung auf der Flucht sind.

Während einiger Jahre hat Frankreich hierbei deutlich mehr geleistet als Grossbritannien. Doppelt so viele Menschen haben in Frankreich Asyl gesucht und es wurden rund zweimal so viele Flüchtlinge aufgenommen.

Aber die Wahrheit ist, dass keines der beiden Länder bei einem internationalen Vergleich gut abschneidet, wenn es um aufgenommene Flüchtlinge geht. Vergleicht man die Situation mit Ländern wie Pakistan, Äthiopien und Kenia, ganz zu schweigen von den Nachbarn Syriens – alle wirtschaftlich viel schwächer und politisch weniger stabil – schneiden Frankreich und Grossbritannien schlecht ab.

Während die Regierungen der beiden Nachbarstaaten zanken, wer die Verantwortung übernehmen soll, stehen in diesen Ländern die Kapazität und der Wille, weiterhin Flüchtlinge aufzunehmen, auf der Kippe. Pakistan schafft Hunderttausende afghanische Flüchtlinge zurück in ein Land, in dem sich der Konflikt bereits wieder verschärft. Kenias Absicht, das Lager von Dadaab zu schliessen, stellt ein ähnliches Risiko für rund 300'000 somalische Flüchtlinge dar.

Bedenkliches Signal

Dieser jüngste Streit zwischen zwei der reichsten Nationen der Welt sendet ein bedenkliches Signal an andere Staaten: Nach dem schlechten Vorbild der beiden europäischen Mächte, fühlen sie sich darin bestärkt, sich ebenfalls von ihrer Verantwortung zu drücken.

Das ist weder mitfühlend noch rational. Es ändert weder etwas an den Ursachen, welche die Flüchtlinge zwingen, ihre Heimat zu verlassen, noch an ihrer Verletzlichkeit gegenüber Schleppern. Tatsächlich führt es genau zum Gegenteil.

Während sichere Zufluchtsorte immer seltener werden, wächst der Druck, längere Fluchtwege zu riskieren. Das spielt Schleppern, kriminellen Gruppen und verschiedenen Einzeltätern, welche die Flüchtenden auf unterschiedliche Weise missbrauchen, in die Hände.

Diejenigen, welche am meisten unter dem kollektiven Versagen der Regierungen leiden, sind die Menschen, welche am dringendsten durch das internationale Recht geschützt werden sollten: die Flüchtlinge. Mehr als die Hälfte von ihnen weltweit sind Kinder.

Nirgendwo sicher

In wachsender Zahl finden Flüchtende keinen sicheren Zufluchtsort mehr, was ihr garantiertes Recht sein sollte. Das trifft mit Sicherheit auf die Kinder zu: Die britische und die französische Regierung bringen es nicht fertig, Grundrechte,  wie eine sichere Unterbringung, den Zugang zu einem geregelten Asylverfahren oder die Familienzusammenführung, zu gewährleisten. Ebenso trifft das auf hunderttausende Kinder in der Türkei zu, die keine Schule besuchen können und stattdessen oft zur Kinderarbeit gezwungen werden. Auch nicht auf die Mädchen, welche im Libanon zur Kindsheirat genötigt oder in Libyen vergewaltigt werden. Genauso wenig auf die vielen Kinder, welche in Europa vermisst werden oder in Griechenland Opfer von Missbrauch wurden.

Trotz Protesten von Regierungen und NGO sind die Kinder in Calais– und ebenso viele erwachsenen Flüchtlinge – nirgendwo sicher. Ein entscheidender Grund dafür ist die anhaltende Weigerung der britischen und französischen Regierung, die Verantwortung gerecht aufzuteilen. Diese Verweigerungshaltung stellt eine unmittelbare Gefährdung für jedes dieser Kinder dar.

Dazu kommt die viel breitere, katastrophale Auswirkung, wenn zwei reiche Länder die Verantwortung für eine winzige Zahl von Asylsuchenden an ihrer gemeinsamen Grenze nicht übernehmen wollen. Für andere Asylsuchende sinkt dadurch die Wahrscheinlichkeit, anderswo Schutz zu finden.

Solange reiche Länder wie Grossbritannien und Frankreich ihren Teil der Verantwortung nicht übernehmen, ist zu befürchten, dass sich die globale Flüchtlingskrise weiter verschärfen wird.