Frankreich Polizei geht mit Schikane und Gewalt gegen Flüchtlingshelfer vor

Medienmitteilung 5. Juni 2019, London/Bern – Medienkontakt
In Nordfrankreich gehen die Behörden mit Schikanen, Einschüchterungstaktiken und sogar Gewalt gegen Personen vor, die Migranten und Asylsuchende durch humanitäre Hilfe oder auf andere Weise unterstützen. Wie ein neuer Bericht von Amnesty International aufzeigt, handelt es sich dabei um eine gezielte Strategie, die zum Ziel hat, die Solidarität mit Geflüchteten zu unterbinden.

Der Bericht mit dem Titel «Targeting solidarity: Criminalization and harassment of people defending migrant and refugee rights in northern France» (PDF, 31 Seiten englisch)  macht deutlich, wie Polizei und Gerichte Menschen ins Visier nehmen, die Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten in Calais und Grande-Synthe helfen.

 «In Nordfrankreich wird es immer riskanter, diejenigen mit Nahrung zu versorgen, die hungrig sind, und denjenigen einen warmen Schlafplatz anzubieten, die kein Dach über dem Kopf haben. Die Behörden gehen regelmässig gegen diejenigen vor, die Geflüchteten und Migranten Hilfe anbieten», so Lisa Maracani, Expertin für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger bei Amnesty International.

 «Als 2016 der ‚Dschungel von Calais‘ aufgelöst wurde, sind die Migranten und Flüchtlinge nicht einfach so verschwunden. Mehr als eintausend Männer, Frauen und Kinder leben immer noch unter prekären Bedingungen in der Gegend. Die Unterstützung, die sie von Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern erhalten, ist entscheidend.»

Zweieinhalb Jahre nach dem Abriss des sogenannten ‚Dschungels‘ leben mehr als 1200 Flüchtlinge und MigrantInnen, darunter auch unbegleitete Minderjährige, in Zelten und inoffiziellen Lagern nahe Calais und Grande-Synthe. Sie haben keinen regelmässigen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser, Sanitäranlagen und Unterkünften. Auch rechtlicher Beistand bleibt ihnen oft verwehrt. Zudem laufen sie stets Gefahr, von der Polizei vertrieben, schikaniert oder tätlich angegriffen zu werden.

Ein Afghane sagte Amnesty International, dass Sicherheitskräfte ihm bei einer Zwangsräumung einen Schlagstock in den Rücken stiessen. Ein anderer Mann berichtete, wie ein Polizist auf sein Zelt urinierte. Von einem Iraner erfuhr Amnesty International: «Ich habe mein Land auf der Suche nach Sicherheit verlassen, doch hier bin ich Übergriffen durch die Polizei ausgesetzt ... Die Polizei kommt jeden Tag und nimmt mir mein Zelt und meine Kleider weg.»

In den vergangenen zwölf Monaten hat die Anzahl der zerstörten Lager und Zelte in Calais und Grande-Synthe zugenommen. Allein von Anfang Januar bis Ende Mai 2019 kam es zu 391 Zwangsräumungen. MigrantInnen und Flüchtlinge, die aus ihren Lagern vertrieben werden, sind in grosser Gefahr, Opfer von Gewalt und Menschenrechtsverstössen zu werden. Eine Frau, die vor Ort lebt und Migranten Hilfe anbietet, schilderte Amnesty International, dass Sicherheitskräfte einige Menschen, die in ihrem Garten übernachteten, mit Tränengas angriffen.

Übergriffe sind an der Tagesordnung

In Frankreich verfolgt man die politische Strategie, die Einrichtung von Lagern von vornherein zu unterbinden, um zu verhindern, dass Flüchtlinge und Migranten sich lange an einem Ort aufhalten. Die steigende Anzahl an Zwangsräumungen ist eine Folge dieses Kurses. Zwar haben die französischen Behörden einen Kontaktdienst eingerichtet, um Flüchtlingen und Migranten den Zugang zu Aufnahmeeinrichtungen und Büros für Asylfragen zu ermöglichen, doch diese sind weit von Calais und Grande-Synthe entfernt und haben manchmal nicht genügend Kapazitäten. Um den Betroffenen zu helfen, haben Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten versucht, die Lücke zu füllen und die grundlegende Unterstützung anzubieten, die der Staat nicht in der Lage ist bereitzustellen.

Statt die Bedeutung dieser Unterstützung anzuerkennen, reagieren die Behörden mit Einschränkungen, Einschüchterungsversuchen, Schikanen und manchmal auch Gewalt. In einigen Fällen wurden sogar strafrechtliche Ermittlungen auf der Grundlage konstruierter Vorwürfe eingeleitet.

Amnesty International hat mit einigen Menschenrechtlern gesprochen, die berichten, dass das Androhen von Festnahme sowie Einschüchterungsversuche und Beleidigungen mittlerweile ein normaler Teil ihrer Arbeit sind. Die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation gab an, von Sicherheitskräften zu Boden gedrückt und gewürgt worden zu sein, als sie im Juni 2018 vier Beamte filmte, die in Calais hinter einem ausländischen Staatsangehörigen herjagten.

Ein Bericht, der 2018 von vier Organisationen veröffentlicht wurde, spricht von 646 Fällen polizeilicher Schikanen gegen Ehrenamtliche zwischen November 2017 und Juni 2018. Für das Jahr 2019 sind bisher 72 solcher Vorfälle dokumentiert, doch die wahre Zahl liegt vermutlich weit höher.

Personen, die Menschenrechtsverstösse gegen Flüchtlinge, Migranten oder Menschenrechtler anzeigen, beschweren sich darüber, nicht ernst genommen zu werden. Charlotte Head, eine ehrenamtliche Helferin, zeigte mehrere Fälle polizeilichen Fehlverhaltens bei der polizeiinternen Untersuchungskommission an. Man warnte sie, dass ihre Beschwerden als «Diffamierung» gewertet und somit eine «Straftat» darstellen könnten.

Stress, Angst und die Furcht vor Strafverfolgung

Zahlreiche Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger sprachen mit Amnesty International über ihr Gefühl, zunehmendem Druck ausgesetzt zu sein, der sich negativ auf alle Lebensbereiche auswirke. Manche leiden in der Folge unter Schlaflosigkeit, Stress und Angstzuständen, während andere die Folgen strafrechtlicher Ermittlungen als lähmend beschreiben.

Loan Torondel, ein ehrenamtlicher Helfer in Calais, sagte Amnesty International: «Ich habe das Gefühl, hin- und hergerissen zu sein: zwischen den akuten Bedürfnissen der Menschen, denen ich helfen möchte, und der Einschüchterung durch die französischen Behörden, die alle humanitären Aktivitäten zu verhindern suchen und unsere Handlungen als Straftaten darstellen wollen. So können wir auf Dauer nicht weiterarbeiten, und dann zahlen die Menschen, die unsere Hilfe benötigen, den höchsten Preis.

Von einem anderen Menschenrechtler erfuhr Amnesty: «Es ist sehr schwierig für die Ehrenamtlichen. Sie haben Angst. Wir informieren sie über die Sicherheitslage und die allgemeine Situation, und sie bekommen Angst. Wir haben Schwierigkeiten, neue Ehrenamtliche zu finden.»

Doch trotz aller Schikanen sind viele derjenigen, mit denen Amnesty International gesprochen hat, fest entschlossen, ihre wichtige Arbeit fortzusetzen. Eine Helferin vor Ort drückte den Migranten und Flüchtlingen ihre Dankbarkeit aus: „Sie haben uns menschlicher gemacht und unser Leben bereichert.“

 «Statt zu versuchen, Migranten und Geflüchteten das Leben so schwer wie möglich zu machen, sollten die französischen Behörden konkrete Massnahmen ergreifen, um ihre Notlage zu lindern und allen Obdachlosen Unterkünfte und Hilfe anzubieten», so Lisa Maracani.

 «Auch Menschenrechtsverteidiger müssen verteidigt werden. Statt Menschenrechtler wie Feinde zu behandeln, sollten die Behörden sie als wichtige Verbündete betrachten. Solidarische und empathische Handlungen dürfen nicht kriminalisiert, sondern sollten wertgeschätzt werden.»

Hintergrund

Der Einsatz für Menschenrechte ist weltweit schwieriger und gefährlicher geworden. Ziviles Engagement kommt durch repressive Gesetze immer stärker unter Druck. Auch in der Schweiz werden Menschen, die solidarisch handeln und Sans Papiers oder abgewiesenen Asylsuchenden in der Not helfen, bestraft.

Mehr zum Einsatz von Amnesty International für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, siehe amnesty.ch/frei