Kasachstan Behörden müssen willkürlich Inhaftierte sofort freilassen

12. Januar 2022
Zahlreiche Journalist*innen und Aktivist*innen wurden nach den Massenprotesten in Kasachstan festgenommen. Amnesty fordert die sofortige Freilassung aller willkürlich inhaftierten Personen. Die Menschenrechtsorganisation verlangt zudem, dass die Zahl der zivilen Todesopfer veröffentlicht wird und dass schnellstmöglich eine unparteiische Kommission die Ereignisse im Land untersucht.

Almaty, die grösste Metropole Kasachstans, gleicht derzeit einer Stadt im Bürgerkrieg. Seit Anfang Januar gehen die Menschen im Land auf die Strasse: Sie fordern einen Regimewechsel und politische Teilhabe. Ausgelöst wurden die Proteste durch die hohen Kraftstoffpreise in Westkasachstan, mittlerweile haben sich die Unruhen aber auf das ganze Land ausgebreitet.

Die kasachischen Behörden beschuldigten Menschenrechtsverteidiger*innen und andere Aktivist*innen, die Demonstrationen angestachelt zu haben. Zahlreich unabhängige Journalist*innen wurden inhaftiert. Am 7. Januar wurde der Chefredakteur der unabhängigen Wochenzeitung Uralskaya Nedelya, Lukpan Akhmedyarov, festgenommen und zu 10 Tagen Haft verurteilt, da er gegen das Versammlungsgesetz verstossen haben soll. Am 5. Januar wurden zwei Journalist*innen eines lokalen Radiosenders wegen ihrer Berichterstattung über die Proteste festgenommen und verhört. Am 10. Januar wiesen die Behörden ausserdem die unabhängige Informationsagentur Fergana.ru an, einen Bericht über die Krise von der Website zu nehmen – andernfalls drohe eine strafrechtliche Verfolgung.  Ausländischen Journalist*innen soll die Einreise verweigert worden sein.

Am 11. Januar teilte das kasachische Innenministerium mit, dass seit Beginn der Proteste am 2. Januar fast 10000 Menschen festgenommen wurden. Amnesty International fordert die Freilassung aller, die wegen ihrer Berichterstattung über die landesweiten Massenproteste letzte Woche willkürlich festgenommen wurden. Auch diejenigen unter den Inhaftierten, die gegen die unangemessen restriktiven kasachischen Versammlungsgesetze verstossen haben sollen und somit keine international anerkannte Straftat begangen haben, müssen unverzüglich freigelassen werden. Demonstrierende, die beschuldigt werden, international als Straftaten anerkannte Gewalt begangen zu haben, müssen faire Verfahren in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsnormen erhalten.

«Amnesty International ist zutiefst besorgt über die Art und Weise, wie Präsident Tokajew im staatlichen Fernsehen Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen beschuldigt, Unruhen angezettelt zu haben – ein Narrativ, das inzwischen von verschiedenen Personen in verantwortlichen Positionen in Kasachstan übernommen wurde», sagte Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.

Die Menschenrechtsorganisation forderte die kasachischen Behörden auf, eine wirksame und unparteiische Untersuchung aller gemeldeten Menschenrechtsverletzungen – einschliesslich der Anwendung tödlicher Gewalt durch die Sicherheitskräfte – anzuordnen. Die kasachischen Behörden müssen Informationen über alle Festnahmen im Zusammenhang mit den Protesten zur Verfügung stellen und die Menschenrechte aller Inhaftierten gewährleisten.

«Die Lage in Kasachstan scheint sich zwar beruhigt zu haben, aber die Krise ist noch lange nicht vorbei», sagte Marie Struthers. «Nichts ist jetzt wichtiger als der freie Zugang zu unabhängigen Informationen und die Bekenntnis der Behörden, die Menschenrechte auch in Zukunft zu achten.» 

Zahl der Todesopfer nach wie vor unbekannt 

Nach Ausbruch der Proteste blockierten die kasachischen Behörden fünf Tage lang das Internet und schränkten die mobile Kommunikation ein. Zwar wurde der Internetzugang bis zum 10. Januar wiederhergestellt, wird jedoch immer wieder unterbrochen. An einigen Orten können mobile Messengerdienste nach wie vor nicht genutzt werden. 

«Die Behörden müssen den Internetzugang uneingeschränkt wiederherstellen, alle anderen Formen der Kommunikation wieder freigeben und die Repressalien gegen diejenigen einstellen, die unabhängige Nachrichten verbreiten. In einer Krise sind unabhängige Informationen von entscheidender Bedeutung», sagte Marie Struthers. 

«Das Schweigen der Behörden über die Zahl der Opfer der Unruhen und die Umstände ihres Todes ist empörend.»Marie Struthers,  Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International

Die genaue Zahl der Opfer der jüngsten Gewalt in Kasachstan ist noch nicht bekannt. Die Behörden bestätigten, dass mindestens 18 Ordnungskräfte getötet wurden, machten aber bisher keine Angaben zur Zahl der zivilen Opfer. Am 9. Januar wurde auf einem Telegram-Kanal, der der Regierung zugeordnet wird, die Zahl von 164 Toten genannt, was jedoch später vom Gesundheitsministerium dementiert wurde. Bei der veröffentlichten Zahlenangabe habe es sich um eine technische Störung gehandelt. 

«Das Schweigen der Behörden über die Zahl der Opfer der Unruhen und die Umstände ihres Todes ist empörend. Die Informationen über zivile Opfer müssen sofort veröffentlicht werden», sagte Marie Struthers. 

400 Strafverfahren eingeleitet

Das übermässig restriktive kasachische Gesetz über öffentliche Versammlungen verbietet praktisch jeden Strassenprotest, es sei denn, er wird von den örtlichen Behörden ausdrücklich genehmigt. Auf der Grundlage dieses Gesetzes müssen Tausende Einwohner*innen Kasachstans, die in den vergangenen Tagen an friedlichen Protesten teilgenommen haben, mit Festnahme und bis zu 15 Tagen Haft oder Geldstrafen rechnen.

Inzwischen wurden bereits mehr als 400 Strafverfahren eingeleitet. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft geht es in den meisten dieser Strafverfahren um Gewalt, einschliesslich Tötungen. In einigen Fällen, die Amnesty International bekannt sind, haben die kasachischen Behörden jedoch unter dem vagen Vorwurf der «Aufstachelung zum sozialen Unfrieden» strafrechtliche Massnahmen gegen Personen eingeleitet, die friedlich ihre Kritik zum Ausdruck gebracht haben. Dazu gehört auch die Eröffnung eines Strafverfahrens im Zusammenhang mit einer Ein-Personen-Mahnwache, die der Umweltaktivist Artyom Sochnev am 4. Januar in Stepnogorsk abhielt. Der Journalist Makhambet Abzhan wird seit dem 6. Januar vermisst. Er ist nicht der Einzige.

«Wir sind äusserst besorgt über die Haftbedingungen und die Gründe für die Festnahme von Tausenden von Menschen.»Marie Struthers

«Leider sind unfaire Gerichtsverfahren in Kasachstan nach wie vor weit verbreitet, ebenso wie Folter und andere Misshandlungen. Rechtsbeiständen wird oft der Zugang zu ihren Mandant*innen verwehrt und sie werden durch Geheimhaltungsverfügungen mundtot gemacht», sagte Marie Struthers. «Wir sind äusserst besorgt über die Haftbedingungen und die Gründe für die Festnahme von Tausenden von Menschen.»

Wie gross die Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen ist, zeigt der Fall von Vikram Ruzakhynov, einem Jazzmusiker aus dem benachbarten Kirgistan, der in Kasachstan auf Tournee war. Am Sonntag übertrug das kasachische Staatsfernsehen sein Verhör, bei dem ein stark angeschlagener Ruzakhynov gestand, von «Fremden» angeworben worden zu sein, um gegen Geld an einer Protestkundgebung teilzunehmen. Ruzakhynov wurde am Montag nach einem diplomatischen Protest aus Kirgistan freigelassen.

Amnesty International fordert, dass alle Berichte über Misshandlungen durch Sicherheitskräfte untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.