Ich treffe Rita Karasartova im Frühstückssaal eines Hotels in der kirgisischen Hauptstadt Bishkek. Sie strahlt Unerschrockenheit und Überzeugung aus, ihr ist nicht anzusehen, dass sie seit Oktober 2022 ohne Urteil festgehalten worden war und dass ihr bis zum Freispruch am 14. Juni 2024 20 Jahre Haft gedroht hatten.
Im Herbst 2022 rief Rita Karasartova zusammen mit 26 weiteren Aktivist*innen zu einer friedlichen Demonstration gegen das Grenzabkommen zwischen Kirgistan und Usbekistan auf, auf dessen Grundlage Usbekistan die Kontrolle über das Kempyr Abad Süsswasserreservoir übertragen wurde. Sie forderten von der Regierung insbesondere mehr Transparenz in den Entscheidungsprozessen und die Konsultation der lokalen Bevölkerung.
Landaufteilung mit Konfliktpotenzial
Wüsten, Steppen, karg und staubig, aber auch riesige Seen und atemberaubende Hochgebirge mit Gletschern und Wiesen voller Edelweiss prägen das Landschaftsbild und die Menschen in Kirgistan. Über zwei Jahrtausende Welt- und Religionsgeschichte verbinden die Kirgis*innen mit den nahen und fernen Nachbarsländern über die alte und die neu entstehende Seidenstrasse.
Doch die politischen Beziehungen der ehemaligen Sowjetrepublik zu China und zu den südlichen Regionen, in denen islamistische Strömungen erstarken, ist komplex. Verschiedene Konflikte überschneiden und befeuern sich. Im südwestlichen Fergana-Tal stossen die Grenzen von drei Republiken und die Schicksale von zehn Millionen Menschen verschiedener Ethnien aufeinander. Die künstliche Aufteilung des Tals zwischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan und die absurd verschlungene Grenzziehung mit zahlreichen Enklaven, barg schon zuvor ein Potenzial für soziale, religiöse und ethnische Konflikte.
Die Zuflüsse des Syrdarja – einer der beiden grössten Flüsse Zentralasiens – entspringen den Gletschern des kirgisischen Teils des Fergana-Tals. Drei dieser Zuflüsse speisen vor dem Zusammenkommen mit dem Syrdarja das Kempyr-Abad Süsswasserreservoir, welches zum einen Teil in Kirgistan und zum anderen Teil in Usbekistan liegt.
Rita Karasartova und andere Menschen befürchteten, dass Usbekistan den Zugang zum in der Region knappen Wasser einschränken oder blockieren könnte, nachdem die usbekische Regierung durch das Grenzabkommen die Kontrolle über das Wasser übernommen hat. Karasartova und die Aktivist*innen kritisieren, dass Kirgistan ein strategisch und ressourcenmässig so wichtiges Gebiet Usbekistan überlassen hat.
Monatelange Haft ohne Urteil
Die Angst der kirgisischen Regierung vor grossen Unruhen ist enorm. Proteste hatten seit 2005 bis 2021 drei Machtwechseln geführt. Um zu verhindern, dass im Vorfeld der Unterzeichnung des Abkommens öffentlich kritische Fragen und Forderungen gestellt werden, wurde eine Razzia bei den Organisator*innen des Protestes durchgeführt. 27 Aktivist*innen wurden festnahmen. Sie wurden anschliessend zwischen 6 und 20 Monaten ohne Urteil festgehalten. Rita Karasartova wurde acht Monate lang in einer engen Zelle festgehalten. Ihr wurde der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt und sie konnte ihre Familie und ihre Tochter weder sehen noch telefonisch sprechen.
Rita Karasartova wurde schliesslich wegen versuchtem «gewaltsamen Umsturzes der Regierung» angeklagt. Sie berichtet, dass das Verfahren gegen sie kurzerhand als geheim eingestuft wurde, was eine unabhängige Beobachtung des Verfahrens durch Menschenrechtsorganisationen stark einschränkte beziehungsweise verunmöglichte. Die Ermittlungen stockten, das Verfahren stand über lange Zeit still. Die Untersuchungshaft unter menschenrechtswidrigen Umständen wurde wieder und wieder verlängert. Schlussendlich konnte die Anwält*innen erwirken, dass Karasartova, deren Gesundheit sich in Haft drastisch verschlechterte, in einen sogenannten Hausarrest entlassen wurde.
Kraft dank Briefen
Im Dezember 2023 war Rita Karasartova eine von zehn Personen, für die man anlässlich des Amnesty-Briefmarathons Unterstützungsmails und -briefe schreiben konnte. Rita Karasartova zeigt mir die vielen Fotos, die sie von den Briefen machte und die sie nach und nach auf ihren Sozialen Medien veröffentlichte. «Von überall aus der Welt wurden sie mir zugeschickt. Es waren unzählige», sagt Karasartova. Die Briefe hätten ihr, ihren Kolleg*innen, aber auch ihrer Familie und vor allem ihrer Tochter Kraft gegeben, um weiter für die Freilassung der inhaftierten Aktivist*innen zu kämpfen. «Die Briefe wurden zu einem Hoffnungsschimmer – nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen Angeklagten», sagt sie.
Rita Karasartova erzählt, dass nämlich auch die Angehörigen der inhaftierten Kempyr-Abad-Aktivist*innen Repressionen ausgesetzt waren, als sie für deren Freilassung demonstrierten. Im Januar wurden mehrere bei einem Protest festgenommen und erst am Abend wieder freigelassen.
Freispruch aus Imagegründen?
Am 14. Juni 2024 wurde Rita Karasartova schliesslich freigesprochen. Es sei schwer zu sagen, ob der Freispruch auf den internationalen Druck zurückzuführen ist oder ob das Gericht doch genügend unabhängig ist und aufgrund fehlender Beweise die ihr vorgeworfenen Taten als nicht erwiesen erachtete. Rita Karasartova fragt sich, ob wohl das Ziel des kirgisischen Präsidenten, das Image seines Landes und die Beziehungen zu Europa zu verbessern, eine Rolle gespielt haben könnten. Dennoch glaubt Rita Karasartova nicht wirklich daran, dass Präsident Schaparow Proteste und damit eine öffentliche politische Diskussion und demokratische Meinungsbildung in seinem Land zuzulassen will.
Eine andere Aktivist*in, die anonym bleiben möchte, bestätigt, dass aktuell in Kirgistan keine Proteste zugelassen werden. In der Hauptstadt Bischkek gäbe es zwar einen kleinen öffentlichen Park in einem unauffälligen Stadtteil, in dem Proteste erlaubt sind. Aber die Praxis habe gezeigt, dass die Organisation friedlicher Versammlungen auch mit Genehmigung der städtischen Behörden zur strafrechtlichen Verfolgung führen könne, so die Aktivistin. So wurden beispielsweise Demonstrant*innen, die sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprachen, festgenommen und mit Geldstrafen belegt. «Dies, obwohl der Park kaum einsehbar ist und der Protest damit praktisch unsichtbar gemacht wird», sagt Karasartova.
Auch die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wird immer stärker eingeschränkt. Am 14. März erliess das kirgisische Parlament ein Gesetz, das von Organisationen verlangt, sich beim Justizministerium als «ausländische Vertreter*innen» registrieren zu lassen, wenn sie Finanzmittel aus dem Ausland erhalten und sich politisch betätigen.
Kurz vor dem Abschied sagt sie noch, dass jeder ihrer Schritte verfolgt werde. Trotz des Freispruchs in erster Instanz kann sie sich nicht frei bewegen und braucht eine Genehmigung, um die Stadt zu verlassen. Es sei immer jemand da, der ihr folge, sagt sie. Denn das Verfahren gegen sie ist noch nicht beendet, die Staatsanwaltschaft habe Berufung eingelegt.
Nach unserem Gespräch schwingt sich Rita Karasartova auf ihr Mountainbike und fährt in das Getümmel der Grossstadt. Der Kampf dieser mutigen Aktivistin geht weiter.
Mehr zum Briefmarathon
Zur Unterstützung von Rita Karasartova im Briefmarathon von 2023
Das Video über die Menschenrechtsaktivistin auf Youtube