Polen Rechtswidrige Push-Backs von afghanischen Asylsuchenden

Medienmitteilung 30. September 2021, London / Bern – Medienkontakt
32 afghanische Asylsuchende werden seit mehr als vier Wochen an der Grenze zwischen Polen und Belarus festgehalten. Digitale Recherchen von Amnesty International belegen Verstösse der polnischen Regierung gegen internationales Recht und legen den Verdacht auf illegale Push-Backs nahe.

Eine Untersuchung von Amnesty International offenbart bisher unbekannte Details über die Situation von 32 afghanischen Asylsuchenden, die seit Wochen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus unter menschenunwürdigen Bedingungen festsitzen. Bei den Geflüchteten handelt es sich um mindestens vier Frauen, 27 Männer und ein 15-jähriges Mädchen, die keinen Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser oder Medikamenten haben und ohne Unterkunft ausharren.

Die Rekonstruktion der Ereignisse anhand von Satellitenbildern und Fotos zur Vermessung des Gebiets und einer 3D-Rekonstruktion zeigt, dass sich viele der 32 Personen, die aus Belarus nach Polen gekommen waren, am 18. August auf der polnischen Seite der Grenze befanden und von polnischen Grenztruppen umstellt waren. Einen Tag später befanden sie sich wieder auf der belarussischen Seite der Grenze. Amnesty International ist der Ansicht, dass diese Bewegung ein Beweis für rechtswidrige Push-Backs sein könnte, da gerade zu diesem Zeitpunkt bewaffnete Angehörige der polnischen Grenztruppen das provisorische Camp der Geflüchteten umstellt hatten.

Polen ignoriert Anweisungen des EGMR

Am 20. August haben alle 32 Afghan*innen, die an der Grenze festsassen, mit Hilfe von Rechtsbeiständen Anträge auf internationalen Schutz in Polen gestellt und damit ihren Wunsch bekundet, in Polen zu bleiben. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 25. August erlassene und am 27. September verlängerte einstweilige Verfügung weist Polen an, der Gruppe Hilfe zu gewähren, und für «angemessene Nahrung, Wasser, Kleidung, medizinische Versorgung und, wenn möglich, eine vorübergehende Unterkunft» zu sorgen. Polen hat die Anweisungen des EGMR bislang nicht umgesetzt.

«Polen hält diese Gruppe von Menschen seit Wochen unter grauenhaften Bedingungen an der Grenze fest. Unsere Recherchen zeigen unwiderlegbar, dass sich ihre Position am 18. August über Nacht von Polen nach Belarus verschoben hat, was stark darauf hindeutet, dass sie Opfer rechtswidriger Push-Backs waren», sagte Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International.

Seit dem Vorfall sitzt die Gruppe zwischen polnischen und belarussischen Grenztruppen fest. Polen hat die Bewegungsfreiheit in dem Gebiet eingeschränkt und am 20. August neue Regeln eingeführt, nach denen an der Grenze aufgegriffene Personen nach Belarus zurückgeschoben werden können. Am 3. September verhängte Polen den «Ausnahmezustand» an der Grenze zu Belarus, wodurch Journalist*innen und NGOs der Zugang zu dem Gebiet verwehrt wurde. Der «Ausnahmezustand» verhindert die Überprüfung möglicher Menschenrechtsverletzungen. Seit dem 19. September sind fünf Menschen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus gestorben, unter anderem an den Folgen von Unterkühlung.

«Die furchtbare Situation, in der sich die Afghan*innen an der Grenze befinden, ist von der polnischen Regierung geschaffen worden.» Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International

«Die furchtbare Situation, in der sich die Afghan*innen an der Grenze befinden, ist von der polnischen Regierung geschaffen worden. Die Ausrufung des «Ausnahmezustands» ist unrechtmässig und muss aufgehoben werden. Die Situation an den Grenzen des Landes stellt nach europäischer und internationaler Definition keinen öffentlichen Notstand dar», sagte Eve Geddie.
Die Zurückweisung von Asylsuchenden ohne individuelle Prüfung ihres Schutzbedarfs verstösst gegen internationales und EU-Recht. Die Einführung neuer Gesetze und Massnahmen, die versuchen, Push-Backs zu legalisieren, ändern daran nichts.

Digitale Verifizierung durch das Evidence Lab

Um die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze einschätzen zu können, hat das Evidence Lab von Amnesty International seit dem 12. August Satellitenaufnahmen auf beiden Seiten der Grenze und mehr als 50 Videos und Fotos von Vorfällen an der Grenze gesammelt und analysiert. Die Bilder stammen aus zahlreichen Quellen, beispielsweise von Einheimischen und der Presse. Die Aufnahmen bestätigen die Bewegungen der Gruppe und die zunehmende Sicherung der Grenze in den vergangenen Wochen.

Unter Einsatz von Messbildverfahren und Foto-Abgleichen zur Rekonstruktion von 3D-Modellen konnte Amnesty International die Position der Gruppe an der Grenze, die mutmasslichen Push-Backs zwischen dem 18. und 19. August und den Aufenthaltsort der Gruppe zwischen 12. August und 13. September feststellen. Die Analyse zeigt auch die unmenschlichen Bedingungen in dem provisorischen Camp, in dem die Gruppe derzeit verharrt.

«Menschen haben in einem Land der Europäischen Union um Asyl gebeten und ein EU-Mitgliedsland verstösst gerade grob gegen deren Rechte. Die EU muss zügig und entschlossen reagieren.» Eve Geddi, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International

Amnesty International fordert die polnische Regierung auf, sicherzustellen, dass Menschen, die Schutz suchen, Zugang zum polnischen Staatsgebiet erhalten. Die Behörden müssen die Push-Backs einstellen und der Gruppe der an der polnisch-belarussischen Grenze gestrandeten Afghan*innen dringend angemessene Unterbringung, Nahrungsmittel, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Zugang zu Rechtsbeiständen und medizinischer Versorgung zur Verfügung stellen. Polen sollte auch den Ausnahmezustand und Gesetze aufheben, die die Bewegung in der Grenzregion einschränken und Journalist*innen, Aktivist*innen, Nichtregierungsorganisationen und Rechtsbeiständen ungehinderten Zugang zu diesem Gebiet einräumen.

«Menschen haben in einem Land der Europäischen Union um Asyl gebeten und ein EU-Mitgliedsland verstösst gerade grob gegen deren Rechte. Die EU muss zügig und entschlossen reagieren, um diese schweren Verstösse gegen internationales und EU-Recht beim Namen zu nennen», sagte Eve Geddie.